Viennale 2004


 

für den FKC berichtet Mag. Irmgard Stefani-Spiegel

 

Leider hatte ich dieses Jahr keine Gelegenheit, Q&As mit Regisseuren aus aller Welt zu verfolgen, die auf vielen internationalen Festivals ihre Filme präsentieren. Aber das lag wohl daran, das meine persönliche Selektion aus dem Programm der Viennale ausschließlich Dokumentarfilme umfasste. Die wenigen Spielfilme, die der Zeitplan erlaubt hätte, waren meist ausverkauft, darunter Clean von Olivier Assayas, 5x2 von François Ozon und After Life von Koreeda Hirokazu. Bei ersteren kann man zwar mit Sicherheit davon ausgehen, dass sie in den Kinos gezeigt werden, aber bei den asiatischen Filmen ist es viel schwieriger.

Trotzdem waren die Dokumentationen sehr interessant. Nachstehend ein kurzer

Bericht über die Filme:

 

 

Memoria del saqueo (Geschichte einer Plünderung)

Fernando E. Solanas

Argentinien/Schweiz/Frankreich 2003

 

Solanas zeigt mit Archivmaterial und Interviews die politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen Argentiniens auf, durch die das Land von einer der wohlhabendsten Nationen Lateinamerikas zu einem armen, hoch verschuldeten 3. Welt-Land wurde. Präsidenten wie Carlos Menem verrieten ihre Wählerschaft immer wieder und brachten durch ihre Macht- und Geldgier das Land an den Rand des Ruins. Solanas arbeitet in seinem mit Zwischentiteln und der Einteilung in zehn Punkte klar strukturierten Werk die Unterschiede zwischen Arm und Reich, zwischen der breiten Masse und der Oberschicht, vor allem auch mit stilistischen Mitteln heraus: Die palastartigen Gebäude der Regierung und der Banken zeigt er in langen Sequence-Shots oder Plansequenzen, in denen die Kamera durch prunkvolle Hallen und Gänge schwebt. Bei der Außenansicht dieser Gebäude verstärkt der Low-Angle den Eindruck der Unantastbarkeit dieser Welt noch. In krassem Gegensatz dazu stehen die Szenen der periodisch wiederkehrenden Massenproteste auf den Straßen mit wackliger Handkamera, die den Zuschauer direkt am Geschehen teilhaben lässt. Eine gewisse Ambivalenz entsteht aus den Jump-Cuts in den Interviews, die Zeugnis über die Korruption und Machtintrigen in der Geschichte dieses Landes ablegen. Dem Zuschauer wird klar, dass die Bilder manipuliert wurden, während sich die verbale Aussage kontinuierlich über das gesamte Interview zieht. Seine trotz allem positive Einstellung kleidet Solanas in einen Ausblick am Ende, in dem die Kraft und Stärke des argentinischen Volks Hoffnung für Veränderungen in der Zukunft gibt.

 

(Weitere Kritik von N.Fink hier)

 

Arna’s Children

Juliano Mer-Khamis, Danniel Danniel

Palästina/Israel/Niederlande 2003

Zehn Jahre nachdem seine Mutter Arna Mer-Khamis, Trägerin des Alternativen Friedensnobelpreises, Anfang der 90er Jahre eine Theatergruppe für Kinder und Jugendliche in der West Bank ins Leben gerufen hatte, kehrt Juliano nach Jenin zurück. Er macht die traurige Entdeckung, dass fast alle von der früheren Gruppe tot sind - von Israelis erschossen oder als Selbstmordattentäter umgekommen.

Arna und ihr Sohn Juliano brachten als Juden einen Hoffnungsschimmer in das Leben der jungen Palästinenser. Sie liebten die Theatergruppe, in der sie Spaß und Gelegenheit hatten, ihre traumatischen Erfahrungen zu verarbeiten. Wenn ihre Häuser durch die israelische Armee zerstört wurden, brachte Arna sie dazu, ihrer Wut Ausdruck zu verleihen. Auf der Bühne zu stehen ist „like throwing a Molotov cocktail“ sagt einer der Jungen.

Mit seiner Super8-Kamera, mit der er das Leben der Jugendlichen, ihren Alltag und die Proben in der Theatergruppe festgehalten hatte, filmt Juliano Mer-Khamis auf den Straßen und Plätzen einer zerstörten Stadt. Er zeichnet ein sehr authentisches Bild der Situation in Jenin, die Kamera ist zwar immer sehr nahe am Geschehen, an den Gesichtern der Menschen, wahrt aber dennoch eine gewisse Distanz und verleiht dem Zuseher Beobachterstatus. Mit der Schlusseinstellung einer Gruppe jüngerer Kinder, die ein Lied über ihre kämpferische Zukunft als neue Selbstmordattentäter singen, entlässt er die Zuschauer mit einem düsteren Ausblick auf die Spirale aus Hass und Gewalt, aus der scheinbar kein Ausbruch möglich ist.

 

 

Cinévardaphoto

Drei Kurzfilme von Agnès Varda, in denen sie sich mit der Wechselwirkung zwischen den Medien Fotografie und Film auseinandersetzt

 

Ydessa, les ours et etc.

Frankreich 2004

Ydessa Hendeles, Sammlerin und Galeristin in Toronto, besitzt nebst einigen wertvollen Exemplaren der kuscheligen Begleiter des Menschen mehrere Tausend Bilder von Teddybären. Bei der Ausstellung dieser Bilder im Haus der Kunst in München, der früheren Nazi-Zentrale, versucht sie als Tochter von Holocaust-Überlebenden, eine Verbindung zwischen den Fotos und der schrecklichen Vergangenheit des Dritten Reichs herzustellen. Mit den Bildern entsteht eine Art kollektives Gedächtnis oder „world memory“, wie Ydessa es nennt, dem auch das Dritte Reich angehört. Durch die im Nebenraum kniende Hitlerfigur will sie zur Diskussion, zum Dialog und damit zur Bewältigung dieses schwarzen Kapitels unserer Geschichte anregen.

 

Ulysse

Frankreich 1982

Bruchstückhafte, auf Fotos festgehaltene Erinnerungen von Agnès Varda. Das Foto, das die Rückenansicht von einem nackten Mann, einen Jungen und eine tote Ziege an einem Strand zeigt, stammt aus den 50er Jahren. Varda geht der Entstehungsgeschichte dieses Fotos nach und findet durch Interviews heraus, dass es im Gegensatz zu der von Ydessa Hendeles dargestellten kollektiven Erinnerung eine sehr individuelle Sichtweise gibt: Jeder sieht in einem Foto, was er will.

 

Salut les Cubains!

1963

Varda reiste im Winter 1962/63 nach Kuba, wo sie - begeistert nicht nur von der jungen Revolution, sondern auch von der Kultur und Geschichte des Landes - zahlreiche Aufnahmen machte, die sich nun aneinandergereiht, durch kleine Montagen und Unterlegung mit wilden Cha-Cha-Cha-Rhythmen praktisch zu einem Film zusammenfügen.

 

 

Guerilla: The Taking of Patty Hearst

Robert Stone

USA/Großbritannien 2004

Was sich zunächst als terroristische Handlung und Angriff auf die zivilisierte westliche Welt darstellt, gerät zunehmend zu einer inszenierten Medienschlacht. Das Fernsehen ist erstmals live dabei, wenn die zahlenmäßig übermächtigen Sheriffs und Deputies von Los Angeles in Wild-West-Manier das Haus der Aggressoren umstellen, beschießen und schließlich anzünden. Ein Teil der Symbionese Liberation Army (SLA) wird bei diesem Shootout getötet. Diese Machtdemonstration folgt auf den „angenehmeren“ Teil: Vor dem Haus der steinreichen Familie Hearst, wo der Vater der entführten Patty immer wieder vor die Medienvertreter tritt, um mit der SLA zu kommunizieren, entsteht ein „press city with barbecue settings“!

Immer wieder zeigt Robert Stone Sequenzen aus der klassischen Robin Hood-Fassung mit Errol Flynn und verdeutlicht damit die Ziele der terroristischen Gruppierung wie die Abschaffung der Armut. In der Realität jedoch enden die geforderten „food distribution plans“ im Chaos und mit Plünderung. Auf die etwas an Bonnie und Clyde erinnernde Entwicklung folgt das unausweichliche Ende: der schonungslose Einsatz der Exekutive gegen die Vogelfreien aus San Francisco. Wenn die von der Terroristin wieder zur reichen Verlegertochter rück-konvertierte Patty Hearst am Ende in einer Talkshow auftritt, während alle anderen ihre Gefängnisstrafen absitzen, gerät die Welt mit ihrer sauberen Trennung in Gut und Böse kurzzeitig aus den Fugen, zumindest für den staunenden Kinobesucher.

 

 

10e chambre - instants d’audience
 (Bezirksgericht, 10. Arrondissement - Momente von Verhandlungen)

Raymond Depardon

Frankreich 2004

Wie am Fließband werden die vor dem erstinstanzlichen Zivilgericht erscheinenden Männer und Frauen abgefertigt. Es geht um Trunkenheit am Steuer, verbale Beschimpfungen, unerlaubten Waffentransport oder illegale Einwanderer. Raymond Depardon zeichnet damit ein Porträt der heutigen französischen Gesellschaft. Hinter jedem dieser Menschen verbirgt sich eine eigene Geschichte, die vor der Richterin, vor dem Gesetz, alle auf ein und dieselbe Ebene gebracht werden: Das Gesetz gilt für alle - plötzlich steht der Soziologe neben dem illegalen Einwanderer aus Mauretanien, die Malerin neben der von ihrem Ex-Ehemann jahrelang misshandelten und bedrohten jungen Frau. Im Verhandlungsraum scheinen alle Fäden für kurze Zeit zusammenzulaufen, die Richterin spricht mehr oder weniger einschneidende Urteile aus. Dennoch waren diese Menschen bereit, diese Momente preiszugeben, sie mittels Filmkamera mit anderen Menschen zu teilen. Verbindet uns Menschen nicht doch noch etwas mehr als das Gesetz? Gibt es nicht doch ein kollektives Empfinden, eine gemeinsame Verantwortung?

 

 

Gan (Garden)

Ruthie Shatz, Adi Barash

Israel 2003

Gan in Tel Aviv ist Treffpunkt und Arbeitsplatz homosexueller Prostituierter und Drogendealer. Zwei junge Männer, Dudo, ein arabischer Israeli, und Nino, ein Palästinenser, verbindet eine tiefe Freundschaft. Sie kamen beide praktisch als Straßenkinder hierher und versuchen zu überleben, indem sie ihren Körper verkaufen. Die Situation scheint absolut hoffnungslos. Dennoch versuchen die beiden, den Freund vor dem Schlimmsten zu bewahren - Heroin oder Gefängnis. Der israelisch-palästinensische Konflikt wird nur am Rande deutlich - irgendwo in der Ferne könnte wieder ein Selbstmordattentat verübt worden sein. Vielleicht ist es gerade diese Ausklammerung der politischen Situation oder auch eine gewisse Lethargie der beiden Hauptpersonen, die die Dokumentation etwas oberflächlich erscheinen lassen.

 

 

Salvador Allende

Patricio Guzmán

Chile/Frankreich/Belgien/Deutschland/Spanien/Mexiko 2004

Der Name Salvador Allende ist in den meisten Dokumentarfilmen untrennbar verbunden mit dem Pinochet-Regime. Auf die leidenschaftlichen Versuche von Allende, ein sozialistisches System in Chile zu schaffen, folgte die schreckliche Militärjunta Pinochets, der während zwei Jahrzehnten Tausende von Chilenen zum Opfer fielen. In dieser Dokumentation stehen allerdings die Person Salvador Allende und die Umstände, die zu ihrem Selbstmord geführt haben, im Mittelpunkt. Ein weiterer neuer Aspekt ist das kollektive schlechte Gewissen, das die früheren Anhänger Allendes bis heute quält: Hätten sie ihn damals stärker unterstützt, wäre es nicht zum Putsch gekommen. Vergangenheitsbewältigung ist also nicht nur im Hinblick auf das Pinochet-Regime notwendig, sondern auch in Bezug auf die Ziele und den Freitod des Salvador Allende.

 


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