WALTER   GASPERI berichtet exclusiv für den FKC:

Bunte Mischung auf der Piazza, Interessantes bei den „Cineasten der Gegenwart“


59. Internationales Filmfestival von Locarno


 

Trotz Internationalem Wettbewerb ist das Schaufenster des Filmfestivals von Locarno die Piazza Grande. Publikumsorientiert und gleichzeitig niveauvoll soll diese Schiene programmiert sein, um 7000 bis 8000 Zuschauer allabendlich anzulocken. Das Publikum spielte mit, das Niveau schwankte aber sehr. Zu begeistern vermochte das Stasi-Drama „Das Leben der Anderen“, das auch den Publikumspreis gewann. In tristem Blaugrau erzählt Florian Henckel von Donnersmarck in seinem ersten langen Spielfilm von einem Stasi-Mitarbeiter, der einsam ein Künstlerpaar abhört. Einerseits taucht Hauptmann Wiesler dadurch zunehmend in eine ihm fremde Welt der Literatur und des Theaters ein, andererseits wird ihm aber auch im Kontakt mit seinen Vorgesetzten bewusst, dass diese selbst nicht an das System glauben, sondern nur für eigene Interessen benutzen. Wiesler erkennt, dass er selbst manipuliert wurde und immer noch wird und dass er vom System um sein Leben betrogen wurde. – Täter und gleichzeitig Opfer des Systems ist er. Wie er sich vom distanzierten und emotionslosen Beobachter zum Anteil nehmenden und eingreifenden Menschen wandelt, ist ebenso brillant konstruiert wie gespielt (Ulrich Mühe). Durch den perfekten Aufbau der Geschichte, das genaue Timing und die auf jeden Schnörkel verzichtende Inszenierung gewinnt „Das Leben der Anderen“ große Dichte und bietet einen beklemmenden Einblick in einen Staat, in dem von der einfachen Hausfrau bis zum Minister jeder der Gefahr der Bespitzelung und Inhaftierung ausgesetzt ist und permanent mit Drohungen und Repressalien gearbeitet wird.

 

Mithalten konnte mit diesem Film auf der Piazza nur Aki Kaurismäkis neuer Film „Lights in the Dusk“, mit dem er seine Loser-Trilogie („Wolken ziehen vorüber“, „Der Mann ohne Vergangenheit“) abschließt. Alles ist da, was die Filme Kaurismäkis auszeichnet, ein Film, wie ihn nur der Finne machen konnte, aber eben auch ein Film, wie ihn Kaurismäki schon mehrmals gemacht hat. Mit unvergleichlicher Prägnanz und Lakonie wird die Geschichte eines Nachtwächters erzählt, der im Auftrag eines Gangsterbosses von einer Blondine umgarnt wird. Ohne es zu bemerken wird er so zum Gehilfen bei einem Juwelenraub und landet im Gefängnis. - Virtuos baut Kaurismäki Motive des Film noir in seine Welt ein und erzählt in wenigen Einstellungen ganze Geschichten: Im Kontrast von Kellerloch, in dem der Nachtwächter wohnt, und eleganter Wohnung des Gangsterbosses von Armut und Reichtum, im Blau und Grau von Aussichtslosigkeit und Tristesse, die aber wiederum durch Farbtupfer wie den roten Pullover eines afrikanischen Mädchen oder das Neonlicht einer Imbussbude, deren Besitzerin den Nachtwächter liebt, aufgehellt wird, in drei oder vier Einstellungen von fallenden Blättern, Eiszapfen und Frühlingsblumen vom Vergehen der Zeit und in der Barriere zwischen Bankdirektor beziehungsweise Richter und Nachtwächter von den sozialen Schranken zwischen Menschen. – Dank seiner einprägsamen Knappheit, der Reduktion auf das Wesentliche bleibt von diesem Film mehr haften als von meisten anderen.

 

Unterhaltsames fürs Schweizer Publikum boten die ihren Lebensmut und ihre Aktivität wieder findenden Pensionistinnen in Bettina Oberlis „Die Herbstzeitlosen“ und der die Schweiz hemmungslos verklärende Gastarbeiterfilm „Un franco, 14 pesetas“. Internationales Familienkino steuerten wiederum die USA mit dem Roadmovie „Little Miss Sunshine“ bei. Wie aus dem Katalog ist die Filmfamilie mit politisch unkorrektem Opa, erfolgsorientiertem Vater, sich jeder Kommunikation verweigerndem Sohn im Teenageralter und suizidgefährdetem homosexuellen Onkel zusammengesetzt. Die Mutter spielt eine Nebenrolle, Agens der Handlung ist die kleine Olive, die an einem Schönheitswettbewerb in Kalifornien teilnehmen darf. Im klapprigen VW-Bus macht sich die Familie auf die Reise. In typisch amerikanischer Manier geht’s hier natürlich um Familienzusammenhalt, aber Charme hat dieses Roadmovie dank der prägnanten Typenzeichnung dennoch und auch das Erzähltempo passt.

Als pathetisch und nationalistisch erwies sich dagegen Sergej Bodrovs und Ivan Passers „Nomad“. In zweifellos grandiosen Landschaftsaufnahmen wird, unterfüttert mit biblischen und mythischen Motiven, eindimensional und mit bedenklichem Freund-Feindschema vom Kampf der Kasachen, die von einem auserwählten Krieger angeführt werden, gegen die Fremdherrschaft erzählt. Schöne junge Menschen, Kampf und ein bisschen Liebe sind die Ingredienzien dieses Epos, das mit einer Warnung an potentielle zukünftige Invasoren endet. Unübersehbar ist das politische Ziel mit „Nomad“ die nationale Identität und das Zusammengehörigkeitsgefühl der Kasachen zu stärken. – Würde heute in einem westlichen Staat ein ähnlicher Film gedreht werden, gäbe es wohl einen Skandal.

Auch auf die Interessen des jugendlichen Publikums wurde beim Piazza-Programm Rücksicht genommen. Andreas Prochaska legt mit „In drei Tagen bist du tot“ den nach eigenen Aussagen ersten österreichischen Horrorfilm vor. Die amerikanischen Vorbilder hat sich der Wiener gut angeschaut. Nach knappem Einstieg mit geschaffter Matura trudeln die Todesdrohungen per SMS ein und Schritt für Schritt wird die Clique von sechs Jugendlichen dezimiert. Geschickt arbeitet Prochaska mit dem ländlichen Milieu und dem Traunsee und baut gekonnt Gruselstimmung. Hin und wieder werden die die Zeichen aber zu sehr forciert, sodass sie Zitatcharakter bekommen und schon ironisch wirken. Auch dass die formelhafte Handlung in Einzelteile zerfällt und überraschungsfrei bleibt, sind Schwächen diese insgesamt aber durchaus unterhaltsamen Genrefilms.

Noch blutrünstiger und drastischer geht’s in Christopher Smiths „Severance“ zu und her. Blutige Splatterszenen gehen in schwärzesten britischen Humor über, wenn die Mitglieder eines englischen Rüstungskonzerns auf dem Weg zu einem Teamtrainingslager in einem ungarischen Wald von verrückten Kriegssöldnern verfolgt werden. Da trennt eine mehrmals zuschnappende Bärenfalle ein Bein ab, da schaut sich ein abgehackter Kopf nochmals die Gegend an und eine auf die Söldner abgefeuerte Panzerfaust ändert ihren Kurs und schießt ein Passagierflugzeug am Himmel ab. – Mit gutem Geschmack hat das nichts mehr zu tun, diskussionswürdig ist aber sicher, ob so ein Film in ein Festivalprogramm gehört.

 

Ganz anderes boten die Sparte „CineastInnen der Gegenwart“, in der abgesehen von der Kaurismäki-Retrospektive vielleicht die interessantesten Filme liefen. Neben Angelina Maccarones Sado-Maso-Beziehungsgeschichte „Verfolgt“ und Isabelle Czajkas Adoleszenz-Geschichte „L´année suivante“ hinterließ hier beispielsweise auch Florence Colombani mit „L´étrangère“ einen starken Eindruck. Um eine Amerikanerin, die passiv in Paris lebt, im Museum Gemälde ansieht, ein Theaterstück einstudiert und in der Garderobe bei einer Opernaufführung von „Der Rosenkavalier“ hilft, aber nicht aktiv am Leben teilnimmt, entwickelt Colombani durch kunstvolle Verknüpfung der verschiedenen Ebenen eine wunderbar leichte Reflexion über Kunst und Leben, Wissen und Fühlen.

So einsam wie die Hauptfigur Colombanis ist auch eine junge Chinesin, die seit drei Jahren in Taipeh lebt in Chun-Hsiung Wangs „Drifting Paradise“. Als sie in einem Cafe einsame Menschen beim Schlafen begleiten und wortlos ihren Erzählungen zuhören muss, verfällt sie schließlich selbst in diese Position der Schlafenden und erzählt in dieser ganz in Blautönen schwelgenden melancholischen Beschwörung  der Einsamkeit und des Verlusts dem Zuschauer die Geschichte ihrer verlorenen Liebe.

Unglaublich komplex wiederum die Plansequenzen, die die Lettin Laila Pakalnina in ihrem Film „Kilnieks“ mit atemberaubenden Kamerabewegungen und –fahrten entwirft. Um einen Flugzeugentführer, der sich mit einem kleinen Jungen auf dem Flughafen von Riga in einem Flugzeug verschanzt hält, baut die Lettin mehrere groteske Erzählstränge auf, die sich zum Bild eines desolaten Landes fügen.

 

Ganz auf das Private konzentriert sich dagegen der Ungar Peter Mészáros, der in „Kythera“ von einem ungarischen Paar erzählt. Durch überraschend eingeschnittene Detailaufnahmen, einer brennenden Zigarette oder eines Weinglases, und durch Traumbilder vom Glück am Meeresstrand baut Mészáros eine melancholische Atmosphäre auf und evoziert zwischen Tristesse und Wunsch nach Aufbruch balancierende Stimmung, die im ereignislosen Leben dieses Paares um die 40 herrscht.

      

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