Tagesanzeiger
Deutscher Leopard
Überraschung in Locarno: Der Goldene Leopard geht an das deutsche Drama «Das
Verlangen» von Iain Dilthey.
Von Nicole Hess
Wir hätten uns beim diesjährigen Wettbewerb diverse Sieger vorstellen können, an
«Das Verlangen» des 31-jährigen deutschen Filmschulabgängers Iain Dilthey haben
wir nicht gedacht. Die Jury unter der Leitung des serbischen Produzenten Cedomir
Kolar zeichnet damit ein psychologisches Drama aus, das im Stil Rainer Werner
Fassbinders von der Selbstbefreiung einer Pfarrersfrau (Susanne-Marie Wrage)
erzählt. Die hermetische Schilderung des protestantischen Milieus, die dem
Goldenen Leoparden (90 000 Fr.) zu Beginn grosse Dringlichkeit verleiht, bricht
im Verlauf einer überdramatisierten und letztlich unglaubwürdigen Mordgeschichte
aber auseinander.
Nachvollziehbar sind die übrigen Auszeichnungen: Der Silberne Leopard für den
zweitbesten Film (30 000 Fr.) geht an das argentinische Roadmovie «Tan de
repente» («Plötzlich») von Diego Lerman, dessen beherztes
Schauspielerinnen-Ensemble auch eine besondere Erwähnung erhält. Den
Spezialpreis der Jury (30 000), der dem Gedanken der Völkerverständigung
gewidmet ist, bekommt der iranische Beitrag «I’m Taraneh, 15» von Rassul
Sadr-Ameli. Die Iranerin Taraneh Allidousti, die in diesem politisch korrekten
Film eine couragierte junge Frau spielt, wird zudem als beste Darstellerin
ausgezeichnet. Auf der männlichen Seite fällt dieser Preis dem Kinderdarsteller
Giorgos Karayannis aus dem griechischen Beitrag «Hard Goodbyes» von Penny
Panayotopoulou zu.
Der Silberne Leopard für das beste Erstlings- oder Zweitwerk (ebenfalls 30 000
Fr.) wird dem kleinen ungarischen Film «Szép Napok» von Kornél Mundruczo
verliehen. Sowohl die ökumenische Jury als auch die internationalen Filmkritiker
sprechen sich für «La Cage» des Franzosen Alain Raoust aus. Der einzige
Schweizer Preis geht an den Zürcher Filmemacher und Produzenten Samir für seinen
Dokumentarfilm «Forget Baghdad» in der Semaine de la Critique.
Unschöne Szenen auf der Piazza
Das 55. Filmfestival von Locarno schliesst erneut mit einem Zuschauerrekord.
Während die Belegung der Säle um über 30 Prozent zunahm, kamen etwa gleich viele
Besucher wie letztes Jahr auf die Piazza Grande. Zum positiven Resultat trugen
vor allem die neuen Kinosäle, La Sala und L’ altra Sala, bei, die das latente
Platzproblem sichtbar entschärften.
Anderseits: Auf der Piazza war dieses Jahr auch ein Missmut zu spüren, der weder
mit dem garstigen Wetter noch mit der unglücklichen Programmierung allein zu tun
hatte. Rund die Hälfte der Openair- Vorstellungen musste wegen Regens abgesagt
werden, und das Publikum erhielt erst im letzten Drittel des Festivals, als
Filme wie «Bend It Like Beckham» (der Publikumspreis) oder «Possession» liefen,
jene qualitativ gute Unterhaltung, die es durchgehend verdient hätte. Von Jahr
zu Jahr - und wir bestehen auf dieser Beobachtung, auch wenn die Festivalleitung
das Gegenteil behauptet - sind auf der Piazza jedoch mehr Plätze für die
Sponsoren reserviert.
Der Engpass, der sich daraus für die übrigen Zuschauer ergibt, führte zu höchst
unschönen Szenen. So wurde am Donnerstagabend bei «Insomnia» ein Schweizer
Filmregisseur von Platzanweisern weggetragen, weil er sich weigerte, seinen
Sitzplatz im Sponsorenbereich zehn Minuten vor Vorstellungsbeginn wieder zu
räumen. Noch selten haben wir auf der Piazza Grande aber auch ein derart
indifferentes Publikum erlebt. Locarno muss aufpassen, dass es das Herzstück des
Festivals nicht an den reinen Kommerz verkauft.
Quelle: www. tagesanzeiger.ch
NZZ
ONLINE:
Goldener Leopard überraschend an «Das Verlangen»
55. Internationales Filmfestival Locarno war ein
enormer Publikumserfolg
Der Goldene Leopard, der Hauptpreis des 55. Internationalen Filmfestivals
Locarno, geht überraschend an den deutschen Beitrag «Das Verlangen» von Iain
Dilthey. Der Film des schottisch-stämmigen Regisseurs gehörte nicht zu den
Favoriten.
Korrespondentenbericht: Tränen und lange Einstellungen
(sda) Der Wettbewerbsbeitrag «Das Verlangen» ist eine theatralische Fabel um
eine Pfarrersfrau, die sich dank der Liebe zu einem Mörder aus der Enge ihres
Daseins lösen kann. Der Film leidet jedoch an schwerblütig-papierenen Dialogen,
an einer angestrengten Inszenierung und an vordergründigem Schauspiel. Die
Bekanntgabe des Hauptpreises durch die Jury, der laut Jurypräsident Cedomir
Kolar als einziger Preis nicht einstimmig zustande gekommen ist, wurde
ausgebuht. Alle anderen Entscheide der Wettbewerbsjury hingegen kamen einstimmig
zustande und fanden das Wohlwollen des Publikums
Den Silbernen Leoparden für den zweitbesten Beitrag hat die Jury an den
argentinischen Erstling «Tan de repente» (So ganz plötzlich) von Diego Lerman
vergeben, einer der emotional berührendsten und formal schönsten
Wettbewerbsfilme, und einer der Favoriten des Publikums. Der Spezialpreis der
Jury für den Film, der den Gedanken der Verständigung zwischen den Völkern und
den Kulturen am stärksten zum Ausdruck bringt, geht an den iranischen Film «I'm
Taraneh, 15» von Rassul Sadr-Ameli, den Preis als beste Schauspielerin erhält
Taraneh Allidousti, die 15-jährige Hauptdarstellerin des Films.
Der Preis als bester Darsteller geht ebenfalls an einen Jugendlichen, an Giorgos
Karayannis im griechischen Erstling «Hard Goodbye: My Father» von Penny
Panayotopoulou. Die Regisseurin erzählt etwas holprig und manchmal zu
sentimental die Geschichte eines Zehnjährigen, der den unerwarteten Tod seines
Vaters nicht verarbeiten kann.
Der Silberne Leopard für den besten ersten oder zweiten Film erhält der
ungarische Regisseur Kornèl Mundruczò für «Vergnügliche Tage», das Porträt von
Jugendlichen zwischen Armut und Verbrechen. Der Publikumspreis der Piazza Grande
schliesslich geht an den Fussballfilm «Bend it Like Beckham» der Regisseurin
Gurinder Chadha.
Die beiden Schweizer Wettbewerbsbeiträge gingen leer aus. Dafür geht der Preis
der Kritikerwoche, der von einer eigenen Jury vergeben wird, an die Schweiz: Der
Zürcher Samir erhält ihn für sein Dokument «Forget Baghdad - Jews and Arabs -
The Iraqi Connection».