Florian Röser berichtet für den FKC vom Int. Filmfestival Innsbruck, Juni 2001


LAS DOCE SILAS (Die zwölf Stühle)
Kuba 1962, Tomás Gutiérres Alea

Eine alte Frau stirbt und versteckt ihre Juwelen im Sitz eines Stuhle, aber sie besitzt 12 Stühle desselben Stils. Als ihr Haus nationalisiert wird, werden die zwölf Stühle über dei ganze Stadt verteilt. Die Helden versuchen, den Stuhl mit den Juwelen zu finden. LAS DOCE SILAS vermittelt die Stimmung in Kuba unmittelbar nach der Revolution. Hipólito Garrigó repräsentiert die Bourgeoisie der 50er Jahre, der Priester stellt die konservative Kirche dar, die nur im eigenen Interesse arbeitet und Oscar, der Sandler, wird nach und nach auf Grund seines sozialen Standes ein aufrechtes Mitglied der neuen Gesellschaft.

Obwohl das Ende vorhersehbar ist und dieselbe Geschichte sich ständig wiederholt, verfolgt man gerne den amüsanten Verlauf der Dinge. Vor allem Oscar vermittelt durch seine Gestik und Sprache viel von seinem Lebensgefühl. Die kubanische Komödie ist sehr leicht verständlich, aber auch für nicht Spanischsprechende vermitteln die Bilder die einfache Geschichte ohne Probleme. Der chaotische Ablauf der Geschichte wird noch durch viele schöne Totale verstärkt. (Klassiker aus der Serie "Humor im kubanischen Film")


WITH CLOSED EYES
Österreich 1999,  Mansur Madavi

Ein Maulesel verweigert sich, er will nicht weiter, wozu auch? Mit diesen Menschen? Unbarmherzig weht der Wind, unbarmherzig soll er dienen? Ein Bild, eine endgültige Metapher, die alles kommende, die ergreifendsten Momente in Kiarostamis Filmen schon warnen will, aber Madavi, der österreichische Aserbaidschaner, will weiter. Zurück. In jenes Land, das für kurze Zeit Geborgenheit, Nichtfremdsein, Heimat versprach, sein karges, utopisches Kindheitserinnerungsland.

Im chilenischen Wüstendorf Inca del Oro fand er jene Momente essentiellen Verfalls und furchtlosen Seins, nicht in den toten Industrielandschaften nahe Bakus oder hierzulande. Sonst wo. Inca del Oro. Auch eine Todesmetapher.

Wunderschöne lange Einstellungen, faszinierende Farben, Bilder wie riesige Fotos. Leider wirkte der Ton auf mich oft sehr störend. Zum Teil nicht wirklich synchron (wodurch die schauspielerisch Leistung noch weniger überzeugte) oder nicht passend zum Bildinhalt, aber dann wieder genial und lässt den Film zu einem richtigen Kinoerlebnis, in Form eines Dokumentarfilms, werden.
 

Siehe Kritik von Norbert, San Sebastian 2000


CORONACION (Krönung)
Chile 2000, Silvio Caiozzi

Don Andrés, der letzte Spross des wohlhabenden Avalos-Clans, fühlt sich mit seinen 58 Jahren unzufrieden. Zuviel Zeit hat er mit Lesen und Sinnieren über sein Leben verbracht. Er stellt die junge Estela an, die am halbverfallenen Ansitz der Familie in der Nähe von Santiago die 97jährige gebrechliche Großmutter von Andrés, Dona Elisa, pflegen soll. Andrés kann aber seine Begierde nach der 17jährigen nicht zügeln. Es folgt der psychische Kollaps von Andrés und der endgültige Abstieg der Familie.

Der Film lebt von seinem perfekten Casting und seiner Geschichte, einem Märchen ohne guten Ausgang. Das Problem des Alterns wird auf eine sehr emotionsgeladene Weise dargestellt. Der ganze Film spielt sich fast nur im selben Haus ab, was zuerst gar nicht auffällt, da die Geschichte die Bilder in den Hintergrund rücken lässt. 


FATAL REACTION 1 - 4
Eine Reportage über Frauen die das gleiche Problem teilen. Das Problem erfolgreicher Frau einen gleichwertigen Partner zu finden. Die Reise geht durch New York, Singapur, Bombay und Moskau. Herausfordernd, humorvoll und dennoch voll herzzerreißender, sehnsuchtsvoller Traurigkeit. 



 
 

THE GODESS OF 1967
Hong Kong/Australien 2000, Clara Law

Wie in einem kühlen, ungewissen Traum beginnt die Fahrt im blauen metallenen Morgenlicht Tokios. Zwischen Laptop und Reptilien kommt J.M. seinem Wunsch nahe: dem Kauf eines Citroen DS, die "Göttin", Baujahr 1967. Mit 35.000 Dollar in bar und einer Reise nach Australien soll der Wunsch Wirklichkeit werden. Doch inzwischen hat der Verkäufer im verfrühten Geldtaumel mit einer Pistole sein Gehirn an die Wand gespritzt und J.M. trifft unvermutet auf die blinde B.G. mit ihren feuerroten Haaren und Geheimnissen. Gemeinsam brechen sie in der "Göttin" zu einer Reise auf, die in die Gegenwart zu zugleich in eine Vergangenheit voll Inzest, einengender Spiritualität, sinnlosen Toden führt. Wahnsinn der Einsamkeiten von Männern und Frauen explodiert in überhöht konzentrierten Farben, die über die Gegenstände hinausreichen, in Traumbildern, die gleich Computergraphiken verwischen.

Ein Fest für Designinteressierte. Außer dem unerwartetem Happy End ist die Geschichte selbst nicht sehr aufregend. Aber was die Bilder betrifft, hat man das Gefühl es wurde Frame für Frame gestaltet. Jedes kleinste Detail hat seinen bestimmten Platz. Motivierte Einstellungswechsel, faszinierende Farben. Obwohl viele verschiedene Einstellungen und Gestaltungsarten verwendet werden verliert der Film nicht seinen Zusammenhalt. Eine Designerin war am Werk.


MAYIS SIKINTISI (Clouds of May)
Türkei 2000,  Nuri Bilge Ceylan

Ein beschauliches Dorf in Anatolien. Wogende Sonnenblumenfelder. Goldenes Korn. Kühlender Wind weht durch den schattigen Wald. Muzaffer, von Beruf Filmemacher, kehrt mit seiner Videokamera in das Dorf seiner Kindheit zurück, um seinen nächsten Film vorzubereiten. Die Suche nach geeigneten Hauptdarstellern führt ihn zurück zu seiner Familie, die jedoch selbst mit Problemen zu kämpfen hat: Sein Vater Emin muss den kleinen Wald, den er auf seinem Grundstück gepflanzt hat, vor der Konfiszierung durch die Behörden retten. Ali, sein 9jähriger Neffe, wünscht sich eine Spieluhr und ist eifrig damit beschäftigt, dieses Ziel zu erreichen, während Saffet, Muzaffars Cousin, die Aufnahmeprüfung für die Universität abermals nicht geschafft hat und Istanbul damit ein Traum in der Ferne bleibt.

Muzaffar ist so sehr mit der Planung seines Films beschäftigt, dass er die realen und unmittelbaren Schwierigkeiten dieser Menschen, die von ihm für seinen Film als "Protagonisten" ausgesucht sind, nicht bemerkt. Unsensibel gegenüber seiner Familie verfolgt er sein Projekt.

Eine Geschichte wird mit schönen Bildern sehr behutsam und ruhig erzählt. Nur wären mir statt den vielen Schwenks andere Einstellungen lieber gewesen. Auch einige Einstellungswechsel empfand ich als unnötig oder unmotiviert. Der Film strahlte extrem viel Ruhe aus. Sich Zeit nehmen zum Nachdenken. 



 

TOCA PARA MI (Spiel für mich)
Argentinien 2001, Rodrigo Fürth

Carlos lebt zufällig in die Tage, mehr noch in die Nächte, von Buenos Aires hinein. Seine Eltern sah er nie, das sollte und durfte nicht sein, so schlägt er sich als Schlagzeuger einer Punkband mit dem unfreiwilligen Leben herum, bis Genaro, jener lebenslustige Akkordeonspieler, der ihn einst als Kind adoptierte, stirbt. Oft bringt in richtigen Filmen wie im richtigen Leben gerade der Tod lebendige Impulse, die auch von jugendlichem Scheintod retten können. Carlos bricht auf, macht sich auf den Weg in die Vergangenheit zur Zukunft, von den guten Lüften zu den Engeln, von Buenos Aires nach Los Angeles, einem trostlosen Dörfchen in der argentinischen Pampa. Sein Geburtsort. Sein Gepäck: Genaros Akkordeon.

In Los Angeles gibt es keine Engel, trotzdem nimmt ihn einer mit, nicht nur um zu beweisen, dass Engel ohnehin meistens weiblich sind. Fabiana darf er zu ihr sagen. Ihren Lebensunterhalt verdient Fabiana mit schnellem Sex für Lastwagenfahrer, da im Plüschbordell von Los Angeles familiäre Langeweile nur mehr von vergangenen Zeiten träumen lässt. Aber jetzt will auch sie nach Hause, zu ihrem kleinen Sohn, ihrem Zuhälterfreund, zu ihrem Haus, einem stillgelegten alten Bahnhof. Und nimmt Carlos einfach mit.

In der Hauptrolle die Musik. Man merkt, wie er auch selbst bemerkte, dass er mit der Musik fast gleich lang am Werk war wie mit den Dreharbeiten. Der Film handelt von Identität. Die Hauptfigur verweigert oft den Blick in sein Inneres, emotionslos wie Buster Keaton. Trotzdem ist man ständig auf der Suche nach seiner Reaktion.

Der Film gewann den Preis des Landes Tirol und den Publikumspreis.


CRONICAMENTE INVIÁVEL (Chronisch untragbar)
Brasilien 2000,  Sérgio Bianchi

In kleinen bissigen Szenen zeigt Sérgio Bianchi, was im heutigen Brasilien untragbar ist, vom Nord-Süd-Gefälle über den gewöhnlichen Rassismus und die Polizeigewalt bis zur Verdrängung des Elends. Als Störfaktor zum 500. Jahrestag der Entdeckung Brasiliens hinterlässt der Film einen nachhaltigen Eindruck.

Der Film wurde am frühen Nachmittag gezeigt und war für mich ein bisschen zu schwer zu verdauen. Brutale und harte Bilder, die nichts verbergen. Die Situation Brasiliens, der Mangel an Solidarität wird sehr klar und einprägsam geschildert.


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