37. Solothurner Filmtage 2002
Am 15. Januar starteten
dieses Jahr die 37. Solothurner Filmtage. Das sich einiges geändert hat und dass
die Filmtage moderner auftreten möchten, konnten wir, Pauline und ich, schon
bei dem neu eingerichteten Empfang erkennen. Des weiteren durften wir ein neues
und dynamisches Logo, das von einem dreißig Sekunden `Endlos-Videoband`
abgespielt wurde, vor den
Filmaufführungen bewundern. Ebenfalls neu waren zwei Kinosäle. Das Canva Kino
wurde um einen Klein-Kinosaal erweitert, und die renovierte Reithalle wurde zu
einem Groß-Kinosaal mit 800 ungemütlichen Sitzen umgestellt. Die Reithalle
ersetzte den Konzertsaal, der entweder für die Filmfesttage nicht mehr zu
Verfügung steht, oder aber immer noch in Renovation ist. Laut dem Filmkatalog
sind weitere strukturelle Änderungen in der Organisation des Festivals
vorgenommen worden. Es scheint als ob die Organisatoren den Anschluss ans 21.
Jahrhundert in keinen Umständen verpassen möchten.
Dass die neue Filmtechnik
immer mehr zum Einsatz kommt, bewiesen die gestiegene Zahl von Videofilmen.
Farbqualität und Filmauflösung reichen zwar immer noch nicht an das alte gute
Filmmaterial heran, aber bei der rasanten Entwicklung der Video-Digital-Technik
wird dies sicher bald der Fall sein.
Trotz oder zum Trotz des
miserablen Wetters, das uns mit Nebel und Januarkälte bescherte, konnte das
diesjährige Festival einen Besucherrekord verbuchen: zehn Prozent mehr Besucher
als im vergangenen Jahr; somit stieg die Besucherzahl auf über 33000. Traurig
war, dass diese Besucher fast keine Premieren von Schweizer-Langspielfilme
genießen konnten. Die meisten waren schon in den Kinos gelaufen.
Schweizerfilme führen ein
Nischendasein in der Schweiz, denn ihr mittlerer Anteil in den letzten zehn
Jahren betrug nur etwa drei Prozent. Die Französische Schweiz und der
Kanton Basel scheinen laut Berichten,
keine Interesse an Innlandsproduktionen zu haben. Dass dies auf Unmut bei
den filmfördernden Institutionen stößt,
konnte bei der Sitzung bezüglich Solothurner Auswahlschau erkannt werden. Falls
diese Landesteile weiterhin kein großes
Interesse an der Auswahlschau zeigen, könnte die finanzielle Unterstützung
dieser Schau eingestellt werden, d.h. dass der FKC auf die Auswahlschau
verzichten müsste.
In der Filmretrospektive
wurden die Dokumentarfilme Paul Riniker gezeigt. Innert zwanzig Jahre drehte er
über 50 Dokumentarfilme.
Das Gastland war dieses Jahr
der französisch sprechende Teil Kanadas, Québec.
Nun zu den Gewinnern des 37. Festivals.
Als bester
Spielfilm wurde Utopia Blues von Stefan Haupt ausgezeichnet.
‚Utopia Blues’ ist die Geschichte eines um Freiheit kämpfenden, labilen Jugendlichen,
der überzeugt ist, die Welt mit seiner Band erobern zu können.
Andrea Guyer und Carol
Schuler erhielten den Preis der besten Darstellerin im Film ‚Lieber Brad’ von
Lutz Konermann. Der Film erzählt die Geschichte eines alleinerziehenden Vaters
mit seinen beiden Töchtern, der sich Hals über Kopf in eine schwarze Frau
verliebt.
Der beste
Darstellerpreis erhielt Michael Finger im Film ‚Utopia
Blues’.
Den Preis für den besten Dokumentarfilm erhielt Vadim Jendreyko für sein Werk ‚Bashkim’.
‚Bashkim’ ist der Name eines in der Schweiz wohnenden Jugendlichen aus dem
Kosovo. Der Film zeigt die Schwierigkeiten des Jugendlichen sich in der Schweiz
zu integrieren.
‚La
jeune fille et les nuages’ von Georges Schwizgebel erhielt den Preis für
den besten Kurzfilm. Der Kurzfilm erzählt die
Abenteuer Aschenbrödels auf verschiedenen Ebenen und mit mehreren
Wolkenbildern.
Kurz-Trickfilme
Eine Welt in der sich niemand
aufregt oder böse ist. Alle sind zu vorkommend nett. Dass in einer solchen Welt
zu nicht alltäglichen Situationen kommt, zeigt der Trickfilm mit viel Humor.
Der Film hat mir sehr gut gefallen. ****
‚Instinct’ von
Tanja Huber
Ein zweiminütiger Trickfilm
aus einfachen Formen und Farben und dazu noch eine passende Musik, die den
rhythmischen Farben- und Formenwechsel unterstützt. Ein interessanter
Anvantgard-Film. ***
‚Luora’ von Carlo Piaget
Ein märchenhafter Trickfilm,
in dem ein Glühfaden einer Straßenlampe als feenhafter Geist dargestellt wird.
Bei einem Sturm in der Nacht fällt die Lampe auf die Strasse, das Glas
zerbricht und der Glühfaden genießt die ersehnte Freiheit huschend über die
Dächer der Häuser. *****
‚Nosfératu Tango’ von Zoltàn Horvàth
Nosfératu Tango ist die Geschichte
einer Mücke die sich in den Prinzen der Vampire, Nosfératu, verliebt. Der
Trickfilm wurde mit Hilfe von einem 3D-Kinderbuch (beim aufklappen der Seiten
stellen sich ganze Szenerien senkrecht auf) gedreht. Sehr originell gedreht. ****
Kurzfilme
Eine Ärztefamilie verliert
ihren Sohn, der eine Begabung für Musik und Klavier hat. Dem Vater gelingt es,
den verstorbenen Sohn zu klonen. Da der geklonte Sohn den verstorbenen vollends
ersetzten muss, wird er gezwungen Musik und Klavier zu studieren. Er entdeckt
das Geheimnis seiner Existenz und versteht nun seine Krankheitssymptome die
ähnlich eines Greises sind.
Der Film ist am Anfang etwas
schwer verständlich, doch gegen Ende wirkt er sehr spannend. ***
‚Letzte Hilfe’
von Gabriela D’Hondt
Frau Späni (Stephanie Glaser)
sollte dringend ins Spital geliefert werden. Eliane, die Spitexschwester, wird
von der Abschiedsparty ihres heimlich Geliebten gerufen um Frau Späni ins
Spital zu fahren. Dies bringt Eliane in Verzweiflung, da sie Angst hat, dass
ihre Freundin den Geliebten während ihrer Abwesenheit ausspannen würde. In
einem Streit mit Frau Späni erklärt Eliane ihre Situation. Frau Späni zwingt
Eliane zuerst an die Abschiedsparty zu fahren um ihrer heimlichen Liebe die
Zuneigung zu gestehen bevor sie ins Spital gebracht wird. Frau Späni stirbt im
Auto während Eliane an der Party ihrem Bekannten die Liebe gesteht.
Vom Inhalt her fand ich den
Film sehr tiefschürfend. ***
‚Hasta luego komotau’ von Sabina Casacuberta
Drei Generationen,
Großmutter, Mutter und Tochter sprechen über Liebe und Heimat. Ein
interessanter und kurzweiliger Dokumentarfilm, wo man so alles über den Wandel
der Liebe und Sinn von Heimat über die
Generationen erfährt. Die erst 22-jährige Filmregisseurin hat einen
Dokumentarfilm von hoher Professionalität gedreht. Daher *****.
Langspielfilme
‚Studers erster
Fall’ von Sabine Boss
Claudia Studer tritt ihre
erste Stelle in der Mordkommission an. Mit ihrem Vorgesetzten, den Macho Huber,
löst sie den ersten Fall. In einer psychiatrischen Anstalt wird der Direktor
ermodert. Huber verdächtig den Pfleger Masek, verhört ihn und sperrt ihn ein.
Masek erhängt sich in der Zelle. Für Claudia
ist der Fall jedoch nicht abgeschlossen, weil sie an Maseks Unschuld glaubt.
Nach einer Durchsuchung der Schränke im Umkleideraum der Angestellten in der
Anstalt kann sie nachweisen, dass der Portier Dreyer der Schuldige ist.
Ein gelungener und
interessanter Film. Das originelle Katz- und Mausspiel zwischen Macho Huber und der ehrgeizigen
Studer lockert den Film auf und verleiht ihm eine spezielle Würze, was in den
eintönigen Fernsehkrimis oft fehlt. ***
‚Epsteins
Nacht’ von Urs Egger
Bei der Weihnachtsfeier in
einer katholischen Kirche in Berlin erkennt der jüdische Alteisenhändler Jochem
Epstein den Priester als seinen ehemaliger
SS-Peiniger aus dem KZ. Mit seinen beiden Freunden, dem kränklichen Adam
und dem Rechtsanwalt Karl, die im selben KZ wie Jochen waren, stellen sie den
Priester zur Rede. Beim Aufrollen der Vergangenheit erfahren auch die Freunde,
dass auch unter ihnen nicht alles korrekt war. Als der Priester keine Reue für
seine Verbrechen zeigt, erschießt ihn
Jochen.
Ein großformatiger Film, so
im Stil von Hollywood der sechziger Jahren: unterhaltsam (wohl gleich nicht
sehr tiefschürfend) und mächtig, schöne Bilder und gutes Filmmaterial,
professionell und doch nicht kommerziell oder einfach gesagt: DER (Schweizer)
Kinofilm! ****
‚Nuit des
Noces’ (Hochzeitsnacht) von Emile Gaudreault; Québec
Bis zum gewonnen Hochzeitswettbewerb
leben Claire und Nicolas in perfekter Harmonie zusammen. Die Schwester Nicolas
hatte sie ohne ihr Einverständnis an diesen Wettbewerb eingeschrieben. Das Fest
findet bei den Niagarafällen statt. Eigentlich möchte Claire schon Nicolas heiraten,
aber Nicolas ist sich über diesen folgenschweren Schritt überhaupt nicht
schlüssig. Trotzdem fliegt die ganze Sippschaft zu den Niagarafällen. Ein
großes Hin und Her findet bis zum Hochzeitstag statt. Die Zeremonie wird von
Nicolas und Claire verschiedene Male ab- und dann wieder angesagt. Bei diesem
turbulenten Hin und Her erfährt das junge Paar, dass das Eheleben der
Verwandten doch nicht so rosig ist, wie es nach außen scheint, und dass ihre
Probleme eigentlich sehr klein sind. Die Heirat findet am Ende doch statt.
Schlusswort der schweigsamen und wortkargen Großmutter: Ich gebe ihnen drei
Jahre!
Ein sehr, sehr humorvoller
Film mit schrecklichem Französischdialekt. Ohne Untertitel in französisch ist
er für einen Europäer oder für jemand, dem das Französisch aus Kanada nicht
geläufig ist, kaum zu verstehen.
Trotzdem haben wir den Film genossen und hoffen, dass er einmal zu uns ins Kino
kommt. ****
Zwei Filme ohne
Kommentar möchte ich noch Qualifizieren. Ich hoffe, dass Pauline diese beide
Filme beschreibt. Den einen ist von
der Lea Pool. Von ihr haben wir vor zwei Jahren den Film ‚Emporte-moi’ an
unserer Auswahlschau gezeigt. Dieses Jahr war Lea Pool mit dem Film ‚Lost and
Delirious’ and den Solothurner Filmtage. Auch dieser Film ist schon in den
Schweizer Kinos gelaufen. Der Film erhält maximale Punktzahl. *****
Den zweiten Film kennen die
fleißigen FKC-Kinogänger. ‚Luna Papa’ von Bakhtiar Khudojnazarov. Ich glaube
all jene, die diesen Film gesehen haben stimmen mir zu: volle Punktzahl: *****
‚Verhör &
Tod in Winterthur’ von
Der Film recherchiert den
Selbstmord von Gabi in ihrer Untersuchungshaft 1984. Sie war eine der Wintis
(von Winterthur), junge Leute die in WGs wohnen und sich gegen den Zustand der
Gesellschaft laut machen. Nach einer Waffenschau der Sulzer AG (größtes
Unternehmen in Winterthur), gehen die Wintis auf die Strasse und machen die
Stadt ‚unsicher’. Ein Bombenanschlag auf das Haus eines in Winterthur lebenden
Bundespräsident zwingt die Polizei zum Eingreifen. 27 Jugendliche werden
verhaftet, darunter auch die Gabi. Unter dem Druck der Verhörbeamten erhängt
sich die Gabi in ihrer Zelle.
Ein interessanter
Dokumentarfilm. Alle noch lebenden Personen, die eng in Kontakt mit Gabi zu
dieser Zeit waren, kommen zu Wort. Der Film zeigt eine neutrale Sicht über die
Geschehnisse in dieser Epoche Winterthurs. ***
‚Giuentetgna dultsch utschi’ –Born in the Surselva von
Christian Schocher
Ein humorvoller
Dokumentarfilm über sechs rätoromanische Jugendliche aus Surselva, Kanton Graubünden.
Spontan erzählen sie über ihre Gefühle, Träume, ihre Einstellungen zu Religion
und Liebe. Ein sehr kurzweiliger Film, aber leider auf Video. ****
‚Happiness ist a warm gun’ von Thomas Imbach
Deutschland in den
Achtzigerjahren. Die Grüne Petra wird von ihrem Lebensgefährten Gert
erschossen. Gert beginnt darauf Selbstmord. Der Film versucht den Moment von
Gert nachzuempfinden, als die Kugel in seinem Kopf eindringt und ihre Laufbahn
irgendwo im Hirn beendet.
Mir war, im Gegenteil zu
Pauline, dieser Vorfall in Deutschland nicht bekannt. Während einer Stunde
wartete ich auf Hinweise, die mich zum roten Faden des Filmes führen könnten.
Aber außer vielen Bildern, die nicht zu einem Ganzen zusammengefügt werden
konnten, passierte nicht viel. Für mich hat der Regisseur zu tief in die
Experimentierkiste gelangt. 0 Punkte
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Und hier der
Bericht von Pauline Lesjak:
Solothurner Filmtage Jänner 2002
Einige
Erneuerungen gab es dieses Jahr: ein neues, "cooles" Outfit, mit
der Reithalle mit 1.000 Sitzplätzen (leider sehr unbequem) ein neuer
Vorführort, im Alten Spital wurden Fernsehfilme präsentiert. Urs und ich
reisten dieses Jahr schon am Mittwoch an, was sich als großer Vorteil
erwies. Beim Empfang im Landhaus (auch dieser Ort zeigte sich
in neuem Outfit) war es sehr ruhig, die Restaurants waren nur halbvoll,
der Anfang war also ganz gemütlich. Dies änderte sich ab Donnerstag, und
am Wochenende waren dann die Kinos und die bestimmten Plätze für InsiderInnen
übervoll. Am Samstag wurde es mir im Canva fast zuviel: Aus dem einen Film
raus, gleich in die Reihe, um für den nächsten anzustehen, der in
einer Stunde beginnen würde. Es gab ein Schieben und Drängen und
viele, die von auswärts angereist waren, äußerten ihren Unmut darüber, dass sie
keinen Platz mehr bekamen. Ich hielt tapfer durch.
Donnerstag
Mittag gingen wir zum Empfang des Locarno Filmfestival im Uferbau. Hier handelt
es sich um ein historisches
Gebäude
an der Aare, nur ein paar Schritte vom Landhaus entfernt, welches gerade
sehr schön restauriert wird. Ein Solothurner erklärte Urs und mir,
dass die EinwohnerInnen gerade dabei sind, das Wasser, sprich die Aare, zu
entdecken. Es sollen Lokale und Aufführungsorte entlang des Flusses entstehen
und das Leben im Freien bereichern. Der Anfang mit dem Uferbau ist
wirklich gelungen. Beim Empfang gab es Crudités, Käse und Wein aus dem Tessin
in Hülle und Fülle. Hier gibt es allen Anschein nach noch Reserven,
wogegen auf der anderen Seite bei den Einladungen zu den Filmtagen bereits
gespart wird: Die Unterkunft muss selbst bezahlt werden. Ich nehme an, deshalb
ist die diesjährige Liste der GästInnen auch dünner ausgefallen.
Hier
nun eine Auswahl der Filme:
Studers
erster Fall
von Sabine Boss: Ein Krimi mit altbewährtem Plot: In einer psychiatrischen
Anstalt wird der Chefarzt
ermordet.
Die Kriminalbeamtin Studer, neu in der Mordabteilung, ist mit ihrem ersten
Fall und einem übellaunigen Macho-Chef
konfrontiert.
Dazu kommt im Privatleben ein problematisches Verhältnis mit einem
verheirateten Polizisten (eh klar). Durch
eine
sehr gute Kamera, treffsichere und witzige Dialoge ein durchaus
kurzweiliger, unterhaltsamer Film. ***
Nuit
des Noces
von Émile Gaudreault: Dieser lief in der Reihe "Invitation
Québec". Der harmonische Alltag eines Paares verläuft ruhig und
geordnet bis zu dem Tag, als die Schwägerin für die beiden eine
Hochzeit an den Niagarafällen gewinnt. Die ganze Familie fliegt mit, um an
diesem großen Tag dabei zu sein, und damit ist das Chaos schon angekündigt. Bei
der Ankunft
stellt
sich heraus, dass eigentlich nur die Braut heiratswillig ist, der
Bräutigam aber seine Liebe nicht unbedingt durch ein
Eheversprechen
festigen will. Natürlich mischt sich die Familie nun in das Herz-Schmerz-Drama
ein und es stellt sich heraus, dass auch in ihren Beziehungen nichts ist, wie es
scheint: der Bruder ist schwul und will seinen Liebsten heiraten, die
Mutter hat seit Jahren einen jüngeren Liebhaber, die Schwägerin/der
Schwager sind kurz vor der Scheidung und zerfetzen sich wegen
dem gemeinsamen Hund. Alle Register werden gezogen. Sehr
vergnüglich.*** Der Film lief im Orginal (ohne
Untertitel)
auf französisch - aber dies war ein breites
Kanadisch-französisch, das sehr schwer verständlich war. Trotzdem
hab'
ich mich köstlich amüsiert. Übrigens wären im Programm "Invitation
Québec" noch einige interessante Beiträge gezeigt
worden.
Es war (und ist jedes Jahr) klar, dass ich nicht überall gleichzeitig
sein konnte und meine Wahl treffen musste.
La
Provinciale von Claude Goretta ("Retrospektive Filmwunder Schweiz
1980 - 1989): Die 31-jährige Christine verlässt die
Provinz, um in Paris zu arbeiten und ihr Glück zu finden. Sie verliebt sich in
einen Schweizer, der dann aber wegen seiner
Karriere
nach Japan geht. Christine ist bewusst, dass diese Beziehung so keine Zukunft
hat und sie trennen sich. Weiterhin gelingt es ihr nicht, eine befriedigende
Arbeit zu finden. Sie schließt sich Claire an, einer alleinerziehender, stets
abgebrannten Schauspielerin. Um ihrer Misere zu entkommen, hat Claire ein
Inserat aufgegeben und schließt mit ein paar Männern einen Vertrag ab, ihnen
einmal pro Woche gegen Bezahlung Zärtlichkeit zu schenken. Christine könnte
sich das persönlich niemals vorstellen, doch in ihrer großen Einsamkeit
will sie die Freundin nicht verlieren. Sie begleitet Claire über das
Wochenende
auf
ein Schloss auf dem Land, wo sich der Jet Set trifft. Die "feinen
Leute" haben die Idee, einen sportlichen Wettbewerb
zu
veranstalten, die Frauen sollen beginnen. Ein hoher Geldbetrag winkt als
Gewinn. Nur auf Drängen von Claire macht Christine mit. Sie gewinnt, überlässt
aber Claire das Geld. Abgestoßen vom geilen Voyeurismus dieser Menschen,
verlässt Christine
fluchtartig
das Schloss. Sie hat ihre Entscheidung getroffen: Um keinen
Preis wird sie sich selbst verkaufen und sie beschließt,
in
ihr Dorf nach Lothringen zurückzukehren. Ein wunderbar
einfühlsamer, ausdrucksvoller Film, der durch die Hauptdarstellerin
Nathalie
Baye besticht - eine Frau, die sich nie aufgibt. ****
Lost
and delirious:
Der neue Film von Léa Pool, der Schweizerin mit Wohnsitz in Kanada, die 2000 in
Solothurn den Schweizer Filmpreis mit "Emporte-moi" gewann, jener
Film, von dem ich restlos begeistert war. So freute ich mich auf ihr
neues Werk, und alle meine Erwartungen wurden übertroffen: Ich verließ das Canva aufgewühlt
und tief bewegt im Bewusstsein, dass es sie immer noch gibt, diese
schönen, poetisch eindrucksvollen Filme.
Mary,
genannt Mouse, kommt ins Internat. Ihre beiden Zimmergenossinnen Paulie
und Tory helfen ihr über den Tod der Mutter hinweg, denn auch sie kennen
bereits Verlust und Verwundbarkeit. Paulie und Tory lieben sich, als jedoch
ihre erotische Beziehung entdeckt wird, wendet sich Tory einem Jungen zu,
aus Angst, von ihrer Familie als Lesbe geächtet zu werden. Paulie versucht, mit
allen Mitteln ihre Liebste zurückzugewinnen, doch ohne Erfolg. Mary steht ihr
in ihrem tiefen Schmerz zur Seite, vermag jedoch der Freundin nicht zu helfen.
Auch die einfühlsame Direktorin bleibt ratlos zurück. Paulie findet im Wald
einen flugunfähigen Adler und pflegt ihn. Wenn sie am Schluss vom
Dach des Internats springt, um "von allem und allen wegzufliegen",
sehen wir den Adler, der seine Schwingen ausbreitet und wieder fliegen kann.
Dazu
Léa Pool: "Die Themen, die Ausgangspunkt und Grundlage von Lost and
Delirious bilden, sind Themen, die mich Zeit meines Lebens interessierten und
als Autorin und Filmerin begleiteten.Themen voller Kraft und Tiefe". Dies
kam hier vollends zum Ausdruck. Eine zutiefst
ergreifende Geschichte über das Erwachsenwerden und die gleichsam
betörende und zerstörerische Kraft der Liebe. *****
Epsteins
Nacht
von Urs Egger: Im Berlin der achtziger Jahre erkennen drei alte
Juden bei einem Weihnachtsgottesdienst im Priester ihren SS-Peiniger aus
dem KZ wieder. Es kommt unweigerlich zur Konfrontation und die Vergangenheit
mit all ihren Schatten wird wieder aufgerollt. Ein professionell
gedrehter Film mit überzeugenden DarstellerInnen (Mario Adorf, Bruno
Ganz, Annie Girardot, Günther Lamprecht). Im Constantin
Verleih rausgekommen ist, wird er bestimmt die Kinos erreichen. Für mich
war die Geschichte zu glatt, ohne Ecken und Kanten. Wahrscheinlich liegt
es auch daran, dass ich früher schon viele Filme dieser Art gesehen habe. ***
Julies
Geist von
Bettina Wilhelm: Julia besucht eine ModeschöpferInnenschule und ihr fehlt stets
das Geld für die Stoffe.
Natascha stiehlt ihrer Mutter eine wertvolle Ikone und
lässt sie bei einem fragwürdigen Kunsthändler schätzen. Im letzten Moment
entscheidet sie sich gegen den Verkauf. Der Händler verfolgt sie auf ihrem
Rückweg nach Hause, da er für die Ikone bereits einen reichen Interessenten
gefunden hat. Er weicht mit seinem Auto Julia aus, die ihn auf der Straße
übersehen hat und überfährt dabei Natascha tödlich. Julia sieht in der Ikone
die Rettung für ihre Modeschau. Aus Angst um ihren Seelenfrieden mischt sich
Natascha als Geist in Julias Leben ein. Nach einigen Abenteuern wendet sich
alles zum Guten und Julias Modepräsentation wird ein voller Erfolg. Der Film
begann ganz gut, verlor aber irgendwie den Faden und blieb seltsam flach. **
Happiness
is a warm gun
von Thomas Imbach: Es geht um Petra Kelly, die deutsche, grüne Politikerin
und den wesentlich älteren ehemaligen General Gert Bastian, der in den
achtziger Jahren zuerst seine Partnerin und dann sich selbst erschoss. Der Film
beginnt dort, wo das Leben der beiden endet. In Fragmenten und ohne wirklichen
Zusammenhang wechselten die Bilder in teils rasender Folge. Nach einer Stunde
war ich nur noch genervt und wir verließen das Kino. Dabei waren wir nicht die
einzigen. Die Geschichte finde ich interessant (Alice Schwarzer hat dazu ein
aufschlussreiches Buch veröffentlicht), aber was da kam, war absolut
verzichtbar. ("Schlafkissen").
Eden
von
Riccardo Signorell und Samuel Schwarz: Zwei junge Paare haben
Erlebnisferien im abgelegenen Kurhotel Eden im Graubündner Land gewonnen.
Gleich nach der ersten Nacht passiert der Mord an einer Haushälterin.
Im Hotel geht es nicht mit rechten Dingen zu, es gibt Gerüchte über Geister
und kommendes Unheil. Dies verstärkt die Beziehungsprobleme der vier.
Nichtssagender
Streifen, irgendwie ein abgekupferter Abklatsch dier
Kult-Serie "Twin Peak". ("Schlafkissen").
Sur
cunfins - dunnas ad alp (Über die Grenzen - Frauen auf der Alp) von Flavia Caviezel:
Immer mehr Frauen verbringen den Sommer auf der Alp. Zwei davon erzählen
von ihrem Leben in den Bergen ("Dem Himmel näher sein") und
was es bedeutet, monatelang in der Einsamkeit zu leben. Die eine ist eine
ehemalige Lehrerin, die nun sechs Monate im Winter auf Reisen geht und sechs
Monate auf einer Schafalpe lebt. Die andere ist Wissenschaflerin am
jüdischen Institut in Bern und spricht über ihr Pendeln vom einen Leben in der
Stadt zum anderen als Sennin in einer Käserei auf dem Berg.
Interessantes Porträt mit stimmungsvollen Bildern. ***
Giuventetgna
dultsch ultschi (frei
übersetzt: Süßer Vogel Jugend) von Christian Schocher: Ein Tag im Leben von
sechs rätoromanischen Jugendlichen, alle um die zwanzig, aus der Surselva.
Zwischen Tradition und Moderne, zwischen Heimatverbundenheit und Fernweh suchen
sie ihren eigenen Weg. Offen und unverblümt erzählen sie von ihrem
Lebensgefühl, ihren Wünschen und Träumen, über die Liebe und Sexualität.
Eindrucksvoll und kurzweilig. ***
Sottosopra von Gabriele Schärer:
Ein Jahrtausend ist zu Ende - zu Ende ist auch das Patriarchat.
Diesem Gedanken soll in dem Doku Raum gegeben werden. Die über achtzigjährige
Theologin Marga Bührig aus Zürich, die Philosophin Luisa Muraro aus Mailand,
die Gewerkschafterin Christiane Brunner aus Genf und die gynäkologische
Krankenschwester Heidi Ensner vom Frauengesundheitstreff "Runa" in
Solothurn erzählen die Geschichte ihrer persönlichen Befreiung und stellen
diese in Zusammenhang mit der Frauenbewegung. Dem steht jeweils eine jüngere Frau
gegenüber. Im Bund mit anderen Frauen stellten sie das Patriarchat seit
jeher in Frage und tragen dazu bei, die Männerherrschaft drunter und drüber -
"sottosopra" - zu bringen. Eine Rollerfahrerin in leuchtend
rotem Rock verbindet die Porträts der Frauen und kommentiert deren Träume,
Wünsche und Wirklichkeiten. Am Schluss treffen sich alle zu einem Essen
auf einer Brücke in Solothurn. Die Regisseurin erklärte in der anschließenden
Diskussion, dass sie für diesen Doku alles in allem ca. fünf Jahre gebraucht
hätte und das der Ausschlag dafür das Buch der Mailänder Frauen
"Das Patriarchat ist zu Ende" gegeben hätte. Auffallend für mich
war, dass auch einige Männer rege mitdiskutierten. Der Doku startet zum
jährlichen Internationalen Frauentag am 8. März in der Schweiz und ich
wünsche ihm zahlreiche BesucherInnen. Obwohl der Streifen 85 Min. lang ist, hat
er keinerlei Längen. Großartig und historisch wertvoll, Gratulation an die
Regisseurin. ****
Die
Reise nach Kafiristan von Fosco & Donatello Dubini: Im Jahr 1939, kurz vor
Ausbruch des 2. Weltkrieges, machten sich
die
Schriftstellerin Annemarie Schwarzenbach und die Ethnologin Ella Maillart
gemeinsam mit dem Auto auf dem Weg Richtung Kabul. Maillart will das
arachaische Leben im geheimnisvollen Kafiristan erforschen, die lesbische
Annemarie, die morphiumsüchtig ist und gerade die Klinik in Zürich verlassen
hat, flüchtet vor ihrem inneren Unglück und der politischen Zerstörung in
Europa. In der Stille der langen Fahrt durch Steppen und unendliche Wüsten werden
die beiden unangepassten, gegensätzlichen Frauen mit ihren eigenen Geschichten
und Grenzen konfrontiert und kommen sich näher. Ihr endgültiges Ziel erreichen
sie nicht, denn als sie ein Ausgrabungscamp in der Nähe Kabuls
besuchen, bricht der Krieg aus und es ist allen EuropäerInnen
untersagt, weiterhin in Afghanistan zu reisen. Einer der Regisseure sprach
über die Entstehung des Films und stellte sich den Fragen: Es gab
sehr wenig finanzielle Mittel, die Beschaffung des Automobils, das nun wegen
offenen Rechnungen dringend verkauft werden sollte, das Drehen in Jordanien und
ein Teil in Usbekistan, da in Afghanistan kein Film gedreht
werden darf. Ich kannte beide Frauen aus der Literatur und deshalb
war dieser Film für mich ein mehrfaches Vergnügen. Wunderbare Bilder,
untermalt mit Musik von Jan Garbarek und Madredeus und mit Jeanette
Hain und Nina Petri zwei hervorragende Schauspielerinnen. ****
Luna
Papa von
Bakhtiar Khudojnazarov: Aus dem Jahr 1999, wurde dieser Film in der Reihe
"Internationale Co-Produktionen Minderheitsbeteiligung Schweiz"
gezeigt. In einem kleinen Dorf in Samarkand träumt die 17-jährige Mamlakat
davon,
Schauspielerin
zu werden. In einer Mondnacht wird sie von einem geheimnisvollen Fremden
schwanger. Für ihren Vater und ihren geistig zurückgebliebenden Bruder ist
das eine Frage der Ehre und sie machen sich gemeinsam auf die Suche nach dem
Vater
des Kindes. Diese ist mit einigen Abenteuern verbunden, bleibt jedoch
erfolglos. Mamlakat trifft auf einen jungen Mann, in den sie sich verliebt und
der sie heiraten will. Bei der Hochzeit sterben Mamlakat's Vater und ihr
Liebster, weil sie von einer aus dem Flugzeug fallenden Kuh getroffen werden.
Schlussendlich stellt sich heraus, dass der Pilot der Vater des Ungeborenen ist
und das ganze Dorf hetzt Mamlakat auf, ihn zum Mann zu nehmen. Diese aber
zieht es vor, auf einem Hausdach wie auf einem fliegenden Teppich
"davonzusegeln". Phantasievoll, Märchenhaft, witzig - ein
wahres Meisterstück. Der Film lief bereits im FKC. ****
Zum
Abschluss das Credo des Direktors Ivo Kummer in seiner Ansprache zur Eröffnung:
"Die Solothurner Filmtage wollen ein Filmschaffen fördern, das in erster
Linie engagiertes, aufklärerisches, fortschrittliches und authentisches Kino
produziert und realisiert."