wir zeigten am Mittwoch, 9.4.2003 - 21.45 -  und Donnerstag 10.4.2003, 19.30 Uhr
den Pasolini-Klassiker:
 


IL VANGELO SECONDO MATTEO

(das Evangelium gemäss Matthäus - "Menschenfischer")

Italien 1964,140 Min, SW, Deutsche Fassung
Regie: Pier Paolo Pasolini.

Buch: Pier Paolo Pasolini, nach dem Matthäus-Evangelium.
Kamera: Tonino Delli Colli. Musik: Johann Sebastian Bach, Wolfgang Amadeus Mozart, Sergej Prokofiew, Anton Webern, Luis E. Baclov.

Mit Enrique Irazoqui, Margherita Caruso, Susanna Pasolini, Marcello Morante, Mario Socrate, Settimio Di Porto, Alfonso Gatto u.a.  


"Pasolinis vielleicht ambitioniertestes Projekt war die Verfilmung des Matthäus-Evangeliums. 'Ich wusste, dass ich das Neue Testament nach der Methode der Analogie verfilmen würde ... Süditalien ermöglichte es mir, die Transposition der alten in die moderne Welt ohne eine archäologische oder philologische Rekonstruktion vorzunehmen.' Il vangelo secondo Matteo ist weder eine exakte Rekonstruktion, noch wird der biblische Stoff in die Moderne übertragen. Vielmehr inszenierte Pasolini den biblischen Mythos aus Motiven der archaischen süditalienischen Landschaft, aus der Kenntnis von zwei Jahrtausenden biblischer Überlieferung und aus seiner eigenen Interpretation dieses Mythos. Die metaphysische Dimension entsteht in dem Film gleichsam naiv, aus dem Geist volkstümlicher Überlieferung; auf der anderen Seite gab Pasolini seiner Christusfigur auch sozialrevolutionäre Züge." (Ulrich Gregor, Geschichte des Films ab 1960)
"Ein streng stilisierter, eindringlicher Film als seltenes Beispiel einer gelungenen Bibelverfilmung." (Bruno Jaeggi, Basler Zeitung)


PIER PAOLO PASOLINI

Der Dichter und Filmemacher Pier Paolo Pasolini (1922-1975) lässt sich nicht einordnen. Den einen war er zu ketzerisch, den anderen ein willkommener Freibeuter, die Gegner von links bezeichneten ihn als Moralisten, die von rechts bezichtigten ihn der Libertinage. Ein Marxist, aber kein Kommunist, ein Christ, aber kein Katholik, ein Atheist, aber gottesfürchtig. Seine Filme wurden als zu symbolistisch von den einen und zu realistisch von den anderen kritisiert. Ein Barbar, der Archetypen schuf, oder gar ein Genie.

Mit Profischauspielern arbeitete er nicht gerne, deshalb nahm er Laien unter Vertrag, aber er engagierte auch international bekannte Stars wie Totò, der Franziskanerbruder aus "Uccellacci e uccellini", die Callas als Medea im gleichnamigen Film, die Magnani, die Hure aus "Mamma Roma", und Terence Stamp, der Engel in "Teorema". Aber seine wirklichen Stars waren Franco Citti und Ninetto Davoli, die mit Pasolini gemeinsam das Filmemachen erlernten und zahlreiche Rollen bereicherten.

Eisenstein, Chaplin, Mizoguchi und Dreyer hat er einmal als wichtige Regisseure erwähnt, doch seine wahren Vorbilder sind die Verdammten dieser Erde, die Bewohner der Borgate, der Vororte von Rom ("Ragazzi di vita", des Mezzogiorno, dem italienischen Süden ("Il Decameron") und der Dritten Welt ("Il fiore delle mille e una notte"), ohne die er der Erde keine Chance mehr gibt. Ihre Subkultur stellt für ihn die einzige Möglichkeit dar, der Kultur des Konsumismus zu trotzen, ihre Traditionen bevorzugt er gegenüber der modernen Informationsgesellschaft.

Zu Beginn der Sechzigerjahre begann Pasolini mit 39 Jahren das Filmemachen, seit 1953 hatte er an Drehbüchern mitgearbeitet. Seinen Erstling "Accattone" wollte nicht einmal sein Freund Fellini produzieren, weil so keine Filme gemacht werden können, wie dieser meinte. Mit dem Produzenten Alfredo Bini und dem Kameramann Tonino Delli Colli fand er dennoch zwei Weggefährten, die ihm auch beistanden, als sich Richter als Filmkritiker aufspielten, was nach Pasolinis Premieren nicht selten passierte. Er verfilmte Leiden und Leidenschaft und wählte lieber die geschlossene Form der Passion als das Fabulieren der Neorealisten der ersten Stunde. Pasolini brachte Bach und Vivaldi in die Hütten der Subproletarier. Pasolini ist aus der Asche des Gründers und Chefideologen der italienischen Kommunistischen Partei, Antonio Gramsci, erstanden. Seine Filmkunst, populär im Sinne Gramscis, drohte verstanden zu werden, sonst wäre Pasolini nicht so oft vor den Richter zitiert worden.

Schon Pasolinis Prosa zeigte filmische Perspektiven; auch wenn er angeblich nicht wusste, was ein Panoramaschwenk ist, machte er ihn. Pasolini hatte den Film genau im Kopf, wie seine Storyboards beweisen, und so assistierte er auch oft hinter der Kamera und am Schnittpult. Auf der Suche nach einer neuen Sprache ist er zum Film gekommen, einer Sprache, die international verständlich ist. Und trotzdem ist den Kritikern die Deutung von Filmen wie "Uccellacci e uccellini" und "Teorema" immer wieder entglitten. In Pasolinis Filmen ist nichts dem Zufall überlassen. Die Poetik der Dialoge, die Ikonographie des Bildaufbaus, die mathematische Montage, die Komposition des Soundtracks, die Herkunft der Maske und der Garderobe, die soziale Stellung der Darsteller, die Kamerarecherche nach geeigneten Drehorten folgen nicht einer artifiziellen Story, sondern dem Widersinn pasolinischen Denkens. Pasolinis Filme spielen zwischen Lust und Leiden in einer hoffnungslosen Welt. Der Weg der Figuren ist vorbestimmt, durch den Karren der Ideologien geschient. Der Rabe in "Uccellacci e uccellini" spricht davon so lange, bis er von den Protagonisten aufgefressen wird.

Das Aufeinandertreffen von de Sade und Salò, der letzten Bastion des italienischen Faschismus, hat die Fans von Pasolini endgültig beunruhigt und verwirrt. In "Salò o le 120 giornate di Sodoma" Pasolinis letztem Film, werden die erlesensten Körper extremen Grausamkeiten ausgesetzt - in der Trilogie des Lebens ("Il Decameron", "Canterbury Tales" und "Il fiore delle mille e una notte") waren die Körper noch Sinnbild für Pasolinis Hoffnung. "Salò"wurde als Skurrilität enttäuscht aufgenommen und als vulgärer Sex mit dem Blick auf den Kassenerfolg gewertet.

Wie Pasolini mit seinem Publikum über die Leinwand kommunizierte, hat er dies mit seinen Mördern gemacht. Die Ermordung in Ostia ist die Konsequenz einer Radikalität, die in den gewaltsamen Tod führte, und erinnert an den Tod Accattones, aber auch an jenen von Ettore in "Mamma Roma". Konstruktiver Pessimismus oder der inszenierte Tod. Pier Paolo Pasolini ist wie Ernesto Che Guevara jung geblieben, nur ist er kein Idol geworden und blieb ohne Nachfolger.

Die Bedeutung seines künstlerischen Schaffens hat seinen frühen Tod bis heute überlebt.

Dr. Helmut Groschup (Leiter des Internationalen Film Festivals Innsbruck)


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