Im Schatten von Venedig

Walter Gasperi berichtet für den FKC vom

61.  Internationalen Filmfestival von Locarno



 

Nicht leicht haben es die Verantwortlichen des Filmfestivals von Locarno bei der Programmierung. Übermächtig ist die Konkurrenz der zwei Wochen nach Ende des Festivals am Lago Maggiore beginnenden Biennale. Mag ein Star wie George Clooney auch am nahen Comersee wohnen, mit dem neuen Coen-Brothers „Burn After Reading“ geht er lieber an den Lido di Venezia als ins Tessin. Nicht nur an Stars mangelt es so vielfach dem kleinsten unter den großen Festivals, sondern auch an großen Filmen.

Zweite Wahl ist da einiges, was auf der Piazza, die das Aushängeschild des Festivals ist, den bis zu 8000 Besuchern geboten wird. Gediegen, aber wenig aufregend war der Kostümfilm Brideshead Revisited“, mit dem das Festival eröffnet wurde, und als aufwändig gemacht, aber inhaltlich nur Versatzstücke mixend erwies sich der Fantasy-Science-Film Outlander“. Die Rahmengeschichte von einem Außerirdischen, der mit seinem Raumschiff und einem gefährlichen Drachen im Norwegen des 8. Jahrhunderts abstürzt, ist nur Staffage um auch Science-Fiction-Fans anzulocken. Denn ganz ohne diesen Humbug würde die Geschichte um das Wikingerdorf, das angeführt von dem von den Einheimischen durch nichts zu unterscheidenden Außerirdischen gegen den außerirdischen Drachen – ein Bär hätte es hier auch getan, genauso funktionieren. Neu und originell ist da freilich nichts, denn der Außerirdische hat wie einst Russell Crowe in „Gladiator“ mit dem Drachen eine Rechnung zu begleichen, da dieser auf einem fernen Planeten seine Familie getötet hat. Auch die Liebe kommt rein und ein Nebenbuhler, der zum Freund wird, aber nichts wird entwickelt oder variiert. – Ein Film wie aus dem Ersatzteillager des Science-Fiction-, Fantasy- und King Kong- oder Godzilla-Ressorts zusammengeschustert.

 

Das Problem des Piazza-Programms besteht freilich auch darin, dass man nicht wie vor Jahren noch große Filme anderer Festivals nachspielen, sondern Welt- oder zumindest internationale Premieren bieten will. Bei „Nordwand“ ist die Rechnung aufgegangen. Da wird wirklich großes Kino für die große Leinwand geboten, mit Alessandro Bariccos „Lezione 21“ ging man dafür gehörig baden. Skeptisch konnte man da freilich schon von Anfang an sein. Denn wenn ein italienischer Bestsellerautor sein Regiedebüt nicht in Venedig präsentiert, sondern in Locarno, muss wohl etwas faul sein. Schlimmes Kunstgewerbe setzt Baricco dann dem Zuschauer mit seiner Geschichte über die Entstehung und Rezeption von Beethovens Neunter Sinfonie vor. Ausgehend von der Erinnerung einer Studentin an die Vorlesung eines Uniprofessors, in der Kunstwerke zerpflückt wurden, springt der Film ins 19. Jahrhundert zurück und entwickelt einen an die Filme Peter Greenaways erinnernden Bilderbogen. – Doch im Gegensatz zu den Filmen des Briten geht bei dieser Kopfgeburt des Italieners nichts auf und der Zuschauer bleibt höchstens verwirrt zurück.

 

Ob die Rechnung von Andreas Prochaska mit der Fortsetzung seines Horrorfilms In drei Tagen bist du tot“ aufgeht, wird allein der kommerzielle Erfolg entscheiden, nach künstlerischen Kriterien will dieser Film gar nicht beurteilt werden. Ein Abstieg gegenüber dem Original ist beim Sequel – wie meist in solchen Fällen – aber unübersehbar. Wurde in „In drei Tagen bist du tot“ zumindest noch versucht eine Geschichte zu erzählen, so lässt sich die Fortsetzung darauf reduzieren, dass die junge Heldin sich auf einem abgelegenen und eingeschneiten Tiroler Hof gegen eine psychisch kranke Familie zur Wehr setzen muss. „Shining“ wird in der Schneelandschaft ebenso zitiert wie „Hostel“ in den Kellerszenen. Auffallend freilich, dass keiner der äußerst brutalen Morde, die im Laufe des Films verübt werden, auf das Konto eines psychopathischen Serienkillers, sondern vielmehr der Protagonistin gehen.

 

Auch andere Piazza-Filme vermochten nicht zu überzeugen. Einigen Esprit versprüht zwar die französische Komödie „La fille de Monaco“, die zu einem großen Teil auch von der stets fotogenen und attraktiven Kulisse der Côte d´Azur lebt. Das triste Milieu einer Zigeunersiedlung bei Marseille fängt dagegen Karim Dridi in „Khamsa“ ein, bleibt aber in Klischees hängen und versteht es auch nicht die Geschichte um einen Jugendlichen zu entwickeln, sondern reiht beliebig Szenen aneinander.

 

Zu beglücken wusste dagegen Garth Jennings Coming-of-Age-Geschichte „Son of Rambow“. Mit viel Liebe zum Detail und großem Einfallsreichtum erzählt der Brite ebenso witzig wie einfühlsam von jugendlicher Begeisterungsfähigkeit und der mitreißenden Kraft des Kinos. Wie zwei Knirpse, der eine in einer stockkonservativen christlichen Familie, der andere mutterlos nur mit dem älteren Bruder aufwachsend, Freunde werden und begeistert von Sylvester Stallones „Rambo“ beschließen diesen Action-Film nachzudrehen beschert ungetrübtes Kinovergnügen, das - wie der „Prix du Public“ zeigt - auch vom Publikum entsprechend goutiert wurde.

 

Im Wettbewerb gab es dagegen wenig zu lachen. Triste Geschichten von einsamen und orientierungslosen Jugendlichen dominierten. Vom Romeo-und-Julia-Verschnitt im Telenovela-Stil beim portugiesischen „Un amor de perdicão“ bis zur in den wunderschönen Indian Summer von Quebec eingebetteten „Story of Jen“ spannte sich dabei der Bogen. Ruhig und auf die starken Hauptdarstellerinnen vertrauend erzählt Francois Rotger lange überzeugend ebenso unaufgeregt wie intensiv von einer 30jährigen Mutter und ihrer 15jährigen Tochter, eine Verfolgungsjagd durch einen kanadischen Nationalpark gegen Ende wirft den Film aber doch aus der Bahn.

 

Konkret Gesellschaftskritisches kam aus China. Pan Jianlin benützt in „Feast of Villains“ die Geschichte um einen jungen Mann, der um die medizinische Behandlung seines kranken Vaters sich sogar zu einer Organspende entschließt, um scharfe Kritik an einem maroden Sozialsystem, Bürokratie und Organhandel zu üben. Der Beginn ist durchaus spannend, doch bald erweist sich die filmische Form weniger als bewusst gewählter Stil als vielmehr als Ausdruck der Hilflosigkeit und die Laienschauspieler bieten selten zu sehendes Non-Acting.

Nicht wirklich zu überzeugen vermochte auch „The Market – A Tale of Trade“, in dem der Brite Ben Hopkins anhand der einfachen Geschichte eines Türken, der gerne ein Handy-Geschäft eröffnen möchte, die Mechanismen des Kapitalismus demonstriert.
Leichte Kost bot dagegen der Westschweizer Lionel Baier, der in „Un autre homme“ in bestechenden Schwarzweißbildern von einem naiven jungen Mann erzählt, der ohne jede Erfahrung Filmkritiken schreiben soll und sich dabei bei einer Pressevorführung eine erfahrene und abgeklärte Kollegin verliebt. Baier spielt lustvoll mit Kinozitaten sowie dem Gegensatz von Stadt und Land und macht sich über Filmkritiker lustig. – Ein geistreicher Film, der Vergnügen bereitet, aber kaum lange nachwirkt.

 

Filmische Experimente fand man im Parallelwettbewerb der „Cinéastes du présent“. Faszinierend ist da beispielsweise der Beginn von „A Zona – Revenir“, in dem der Portugiese Sandro Aguilar in Grüntöne getauchte Bilder, in denen geschickt mit der Schärfe gearbeitet wird, von Menschen, die in einem Krankenhaus warten aneinanderreiht. Doch so suggestiv diese Bilder und so mutig der weitgehende Verzicht auf Dialoge auch sind, so schwer macht es Aguilar dem Zuschauer mit seinem Stream-of-Consciousness, bei dem bis zum Ende nicht eine wirkliche Verankerung und ein Ausgangspunkt der Erinnerungen ausgemacht werden kann. Dass es um Sterbeszenen und Verlusterfahrungen geht, ist unübersehbar. Da der Zuschauer die Szenen aber nicht verknüpfen und einordnen kann, bleibt er mit Fortdauer frustrierter zurück.

 

Ganz einfach, aber von geradezu unerhörtem Minimalismus ist dagegen Esteban Larrains „Alicia en el páis“. Nichts anderes als die 180 Kilometer lange Wanderung eines 13-jährigen Quechua-Mädchens von Bolvien nach Chile zeichnet der chilenische Regisseur nach. Ganz auf ihr Gesicht ist die Kamera fokussiert, unterbrochen werden die Bilder ihres Marsches durch die grüne Pampa des Altiplano, durch Salzwüsten und vorbei an bizarren Felsformationen nur durch Flashbacks an eine Schulstunde oder ein traditionelles Fest. – Der Minimalismus dieser Reise ins Erwachsenenalter zwingt den Zuschauer zur eigenen Reflexion, zum Nachdenken über die Zerstörung der Indio-Kultur ebenso wie über den sozialen Gegensatz zwischen dem armen Bolivien und dem reichen Chile.
 


 

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Und so urteilten die Jurys:
 

Golden Leopard
PARQUE VIA by Enrique Rivero, Mexico

Special Jury Prize 
33 SCENY Z ZYCIA (33 Scenes from Life) by Malgoska Szumowska, Germany/Poland

Best Director
for ELLE VEUT LE CHAOS, Canada Leopard for Best Actress  Ilaria Occhini in MAR NERO by Federico Bondi, Italy/Romania/France

Leopard for Best Actor 
Tayanç Ayaydin in THE MARKET – A TALE OF TRADE by Ben Hopkins, Germany/UK/Turkey/Kazakhstan

C.P. Company Golden Leopard / Filmmakers of the Present Competition
LA FORTERESSE by Fernand Melgar, Switzerland

Ciné Cinéma Special Jury Prize / Filmmakers of the Present Competition
ALICIA EN EL PAÍS di Esteban Larraín, Chile

Leopard for the Best First Feature
MÄRZ by Händl Klaus, Austria (International Competition)

Golden Leopard
SRG SSR idée suisse Prize for the International Leopard of Tomorrow Competition

DEZ ELEFANTES by Eva Randolph, Brazil

Silver Leopard
Eastman Kodak Company Prize for the International Leopard of Tomorrow

KAUPUNKILAISIA by Juho Kuosmanen, Finland

Golden Leopard
IKEA Prize for the Leopards of Tomorrow National Competition 

LA DÉLOGEUSE by Julien Rouyet, Switzerland

Silver Leopard
Eastman Kodak Company Prize for the

Leopards of Tomorrow National Competition 
UN DIA Y NADA by Lorenz Merz, Switzerland

Prix du Public UBS
SON OF RAMBOW by Garth Jennings, UK/France/Germany

Variety Piazza Grande Award
BACK SOON
by Sólveig Anspach, Island/France

Im Detail hier:
http://www.pardo.ch/jahia/webdav/site/pardo08/shared/pdf%202008/PalmaresNews_de.pdf


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