62. Filmfestival von Locarno,  5. - 15.8.2009.


Walter Gasperi berichtet für den FKC


 

Keinen großen Jahrgang bescherte Frédéric Maire in seinem letzten Jahr als künstlerischer Direktor Publikum und Journalisten. Statt auf große Filme wie zu den Zeiten David Streiffs setzte Maire auf der Piazza auf Weltpremieren und der Wettbewerb dümpelte lange vor sich hin, ehe er am Ende doch noch anzog. Angesichts der vielen Programmsektionen gab es in Locarno aber auch heuer wieder Einiges zu entdecken und wer eine Vorliebe für japanische Mangas – oder genauer Animés wie die Filmversionen japanischer Comics exakt heißen – hat, der konnte sich in der Retrospektive so richtig sattsehen.

Am Abend vor der Eröffnung gab es auf der Piazza schon einen Testlauf mit Claude Millers Dokumentarfilm Marching Band“. Miller beobachtet dabei die vor allem afroamerikanischen Mitglieder zweier studentischer Blasmusikgruppen in Virginia während der Zeit vor den letzten amerikanischen Präsidentschaftswahlen. Eindringlich macht der Film die Aufbruchsstimmung und die Hoffnungen, die Obama unter diesen Studenten verbreitet. Problem des Films ist aber, dass einerseits die begleiteten Studenten kaum Profil gewinnen und sich damit kaum im Gedächtnis des Zuschauers einprägen, andererseits zu wenig kritische Gegenpositionen ins Bild gerückt werden, sodass dem Film Widersprüchlichkeit und Ambivalenzen fehlen. Nicht zu übersehen ist auch die Redundanz der Szenen.

Unbedingt auf die Piazza gehören angesichts der zahlreichen deutschen Touristen immer auch deutsche Filme. Nach dem packenden „Nordwand“ im letzten Jahr gab es heuer mit dem Nazidrama „Unter Bauern“ und einem neuen Film von Detlev Buck gleich zwei deutsche Produktionen auf der riesigen Leinwand des prächtigen Platzes zu sehen.

 

Ludi Boeken erzählt in Unter Bauern. Retter in der Nacht nach den 1965 erschienenen Erinnerungen der Jüdin Marga Spiegel, die es sich trotz ihres Alters von 97 Jahren nicht nehmen ließ die Filmpremiere in Locarno zu besuchen, von einer jüdischen Familie, die von 1943 bis 1945 von westfälischen Bauern vor den Nazis versteckt wurde. Schildert Boeken zunächst noch durchaus eindringlich ein Klima der permanenten Bedrohung, in dem nicht nur die Juden Entdeckung, sondern auch die Bauern Verrat durch Nachbarn oder sogar die eigenen Kinder fürchten müssen, so wird die Erzählweise mit Fortdauer zunehmend holpriger und wartet mit unglaubwürdigen Wendungen auf. Da wandelt sich zum Beispiel ein strammes BDM-Mädchen binnen weniger Stunden zur Nazigegnern, überwirft sich mit ihrem Nazifreund, fällt ihm dann aber doch plötzlich wieder in die Arme. Statt Szenen plastisch zu entwickeln, werden Stationen nur holzschnittartig abgehakt, sodass Aspekte, die allein das Potential für einen packenden Film gehabt hätten, keine emotionale Kraft gewinnen.

 

Nicht ganz geglückt ist auch Detlev Bucks Verfilmung von Benjamin Prüfers autobiographischem Roman „Wohin du auch gehst“. In dieser Geschichte einer scheinbar unmöglichen Liebe zwischen einem jungen Deutschen und einer HIV-positiven kambodschanischen Prostituierten bleiben die von David Kross und Apinya Sakuljaroensuk Protagonisten einfach zu blass, als dass ihre Geschichte wirklich packen könnte. In Postkartenansichten gleiten nach dynamischem Beginn mit dichter Schilderung der Atmosphäre in Phnom Penh auch die Aufnahmen von Kambodscha ab. Zugute halten muss man Buck andererseits die Zurückhaltung in der Inszenierung. Hier wird nicht mit allen Mitteln auf die Tränendrüsen gedrückt wie das beispielsweise in Locarno der Amerikaner Nick Cassavetes in My Sister´s Keeper – Beim Leben meiner Schwester macht. Wie schon Cassavetes´ „The Notebook“ ist auch diese Verfilmung eines Romans von Jodi Picoult ein vor Kitsch triefendes Rührstück. Hemmungslos schwelgt Cassavetes in dieser Familiengeschichte, in der eine elfjährige, die nur in die Welt gesetzt wurde, um als Ersatzteillager für ihre leukämiekranke Schwester zu dienen, ihre Eltern auf das Recht auf Selbstbestimmung über ihren Körper verklagt, in Hochglanzbildern und peitscht mit einer entsprechenden Musiksauce die Emotionen noch auf. Und damit es dann doch nicht zu tragisch wird, muss dann immer noch ein Witzchen her. – Fahrlässig ist dieser süßliche Umgang mit einem ernsten und harten Thema.

 

Durchgeknalltes Kino boten dagegen die Brüder Larrieu, die in Les derniers jours du monde mit wenig Aufwand eine weltweite Katastrophe inszenieren, durch die Mathieu Amalric hilflos tappt und von einer sexuellen Affäre in die nächste stolpert. – Bildstark und voller Wendungen ist diese fast schon surreale Szenenfolge.

 

Ruhiger geht es der Spanier Marc Recha an, der in Petit Indi von einem schweigsamen Jugendlichen erzählt, der zwischen Hochspannungsleitungen und Autobahnen in einer tristen Siedlung am Rande von Barcelona lebt. Seine ganze Liebe gehört seinen Singvögeln, mit denen er bei Wettbewerben Erfolge erzielen kann. Weil er für seine im Gefängnis sitzende Mutter einen Anwalt engagieren will, versucht er, animiert von seinem Onkel, aber schließlich sein Glück mit Wetten bei Hunderennen. Etwas sehr träge erzählt und vorhersehbar überzeugt Rechas Film vor allem in den fast dokumentarischen Szenen von den Wettbewerben mit Singvögeln und dem Geschehen auf der Hunderennbahn.

 

Nicht durchgesetzt haben sich die Mangas auf der Piazza, kamen zur großen Manga-Nacht doch gerade mal 2500 Besucher. Von der Breite dieser Filmrichtung konnte man sich in Locarno jedenfalls einen Eindruck verschaffen, musste aber auch einsehen, dass da manches hirnlose Machwerk produziert wird. „Redline“ beispielsweise wirkt wie die Potenzierung eines amerikanischen Actionkrachers. Mit einem Tempo und in übervollen Bildern, die einem Hören und Sehen vergehen lassen, erzählt Takeshi Koike von einem futuristischen Autorennen. Verfolgen kann man das Geschehen aber kaum, denn der Regisseur tobt sich mit seltenem Furor aus und packt sowohl auf visueller Ebene als auch hinsichtlich der Erzählebenen soviel hinein, dass am Schluss doch wieder gar nichts bleibt.

 

Die Filme im Wettbewerb rückten dagegen menschliche Schicksale in den Mittelpunkt, erzählten von verlorenen Jugendlichen und vielfach auch von starken, ihren eigenen Weg gehenden Frauen. Wie autoritäre Eltern durch Verbot der Liebe ihrer Tochter schließlich eine Katastrophe auslösen zeigt der Malaysier Ho Yuhang in Sham Moh – At the End of Daybreak. Überzeugend schilder Yuhang in der ersten Hälfte dieses Films mit verknappter Erzählweise in wenigen Einstellungen gesellschaftliche Gegensätze und elterlichen Leistungsdruck, ist ganz auf Augenhöhe mit dem jugendlichen paar und erinnert in einigen nächtlichen Motorradfahrten in der melancholischen Stimmung gar an Wong Kar Weis „Fallen Angels“. Ab dem Zeitpunkt, ab dem die Eltern des Mädchens die Beziehung aber verbieten und die alkoholkranke Mutter des Jungen unter Druck setzen, presst Yuhang aber immer mehr Story hinein, sodass die Handlung zunehmend kolportagehaft und unglaubwürdig wird.

Schwere Kost bot der Argentinier Santiago Loza mit La invención de la carne dem Publikum. So fragmentarisch, wortkarg verschlüsselt erzählt Loza von einem unter Alpträumen leidenden Mann und einer von Ängsten geplagten Frau, dass sein Film nur Irritation und Verärgerung zurückließ. Seine Kunstfertigkeit zelebriert auch der zweite Argentinier im Wettbewerb. In „La cantante de Tango erzählt Diego Martínez Vignatti von einer jungen Tangosängerin, die darunter leidet, dass sie von ihrem Freund verlassen wurde, und sich selbst verletzt. Von dieser Verletzung an entwickelt der Film zwei Handlungsstränge, die wohl zwei Varianten des Fortgangs der Geschichte sind. In der einen Fassung geht die Frau nach Frankreich um ein neues Leben zu beginnen, in der anderen steigt sie in Buenos Aires zum Tango-Star auf. Dass dies zwei Varianten sind, ist aber nicht so klar, da Vignatti die beiden Geschichten nicht hintereinander, sondern ineinander geschnitten erzählt, sodass man sich immer wieder überlegt, wie sie denn zusammengehören (Rückblende?). Wie die Erzählweise unnötig verschachtelt ist, so zelebriert der Argentinier in 360° Panoramaschwenks, in ausgefeilter Farb- und Lichtregie auch selbstgefällig seine Kunst, entleert Szenen und Bilder ihres Gehalts und macht sie zu Werbepostern.

Dies kann man dem Russen Alexei Mizgirev nicht vorwerfen. In Buben. Baraban erzählt er sehr konzentriert von einer Bibliothekarin, die sich in einer Minenstadt ein Zubrot mit dem Verkauf von Bibliotheksbüchern verdient. Mizgirev zeichnet dabei parabelhaft die Situation des an der Schwelle zwischen Kommunismus und freier Marktwirtschaft stehenden Landes. Überall herrscht Korruption und Geschäftemacherei, wobei die Düsternis durch die dunklen Farben und engen Räume noch verstärkt wird.*

 

Sehr viel lichter ist da Akademia Platonos“, in der Filippos Tsitos am Beispiel von vier ausländerfeindlichen Griechen, die tagtäglich auf einem kleinen Platz in Athen sitzen, für Toleranz plädiert. Heftig erschüttert wird da nämlich das Selbstbild von Stavros, als sich gerade ein Albaner ihm als Bruder vorstellt und seine Mutter erzählt, dass sie mit ihm als einjährigem Kind von Albanien nach Griechenland emigrierte. Das Thema ist aktuell, doch einerseits versucht Tsitos niemandem weh zu tun und verharmlost die Dinge, andererseits merkt man dem Film auch an, dass Tsitos schon mehrere Folgen von „Tatort“ inszeniert hat, denn filmsprachlich kommt „Akademia Platonos“ nicht über solides Fernsehformat hinaus.

 

Da geht die Französin Sarah Leonor in Au voleur schon riskantere Wege. Die Geschichte ist im Grunde einfach: Eine Lehrerin verliebt sich in einen Dieb, verhilft ihm zur Flucht vor der Polizei und streift mit ihm durch die Wälder. Problematisch sind nicht so sehr die Wendungen in der Handlung, als vielmehr die stilistischen Sprünge und die dick aufgetragene Botschaft. Wirkt der Beginn fast wie ein Film der Berliner Schule, so geht es bei der Flucht in eine Landschaft, die an die Sümpfe von Louisiana erinnert. Hier wird nicht nur mächtig Blues als Soundteppich eingesetzt, sondern allzu platt wird auch Enge der Stadt und Natur und damit auch falsches Leben und echtes, von der Gesellschaft befreites Leben einander gegenübergestellt.

Mehr zu überzeugen vermochte da schon in der Reihe „Cinéastes du Présent“ Valérie Donzellis Debüt La reine des pommes“. In dieser spritzigen und frischen Komödie, zu der die Regisseurin nicht nur Buch und Musik schrieb, sondern auch die Hauptrolle spielt, geht es um eine junge Frau, die in eine tiefe Depression fällt, als sie von ihrem Freund verlassen wird. In der Folge wird sie aber drei Männer begegnen, sich zuerst an den falschen ranwirft, dann aber doch den richtigen findet. – Das ist mit viel Esprit und einfallsreich inszeniert, verspielt und federleicht – ein Film, wie er nur aus Frankreich kommen kann.



Und so urteilte die Jury:
Goldener Leopard:
SHE, A CHINESE von Xiaolu GUO, GB/D/F


Spezialpreis der Jury:
BUBEN.BARABAN von Alexei Mizgirev, Russland

Beste Regie
BUBEN.BARABAN von Alexei Mizgirev, Russland

Leopard für die beste Schauspielerin:
Lotte Verbeek in NOTHING PERSONAL von Urszula Antoniak, NL / IRL

Leopard für den besten Schauspieler:
Antonis Kafetzopoulos in AKADIMIA PLATONOS von Filippos Tsitos, GR / D

Golden Leopard – Filmmakers of the Present Competition City of Locarno 
THE ANCHORAGE von C.W. Winter and Anderson Edstöm, USA/Schweden

CinéCinéma Special Jury Prize / Filmmakers of the Present Competition 
PIOMBO FUSO von Stefano Savona, Italy

Leopard für das beste Erstlingswerk:
NOTHING PERSONAL von Urszula Antoniak, NL, IRL

Der Publikumspreis der Piazza Grande (20.000 CHF) geht an den Film:

GIULIAS VERSCHWINDEN von Christoph Schaub, Schweiz

mehr auf www.pardo.ch


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