60. Berlinale - 2010


Bericht für den FKC von Walter Gasperi:

 

60. Berlinale - 2010

 

So frostig wie das Wetter in der deutschen Hauptstadt war, ging es vielfach auch in den Filmen der 60. Berlinale zu und her. Im Mittelpunkt standen immer wieder einsame Männer, oft gerade aus der Haft entlassen. Nicht wirklich schlecht war das Programm, aber eben auch nicht so, dass es einem vom Stuhl riss, denn wirklich große Filme fand man auch dann kaum, wenn man mit der Lupe danach suchte.

 

Wettbewerb:

Rompecabezas: Zum 50. Geburtstag erhält die Hausfrau und Mutter Maria unter anderem ein Puzzle geschenkt und verfällt dem Spiel förmlich. Als sie durch Zufall auf eine Anzeige stößt, in der ein Partner zum Training für den Puzzle World Cup in Deutschland gesucht wird, meldet sie sich. Dass sie mit einem älteren Junggesellen für diesen Wettkampf trainiert, verschweigt sie freilich zuhause aus Angst vor Widerspruch durch Mann und erwachsene Söhne.

Hautnah ist die Kamera im Debüt der Argentinierin Natalia Smirnoff an der Protagonistin dran. Nie weitet sich der Blick auf ein Umfeld und soziale Realitäten. Wie Maria widmet der Film einzig dem Puzzeln sein Interesse und erzählt dabei freilich auch von der Befreiung der 50-Jährigen aus dem familiären Alltagstrott und, wie das Familienleben dadurch nach und nach teilweise aus den Fugen gerät.

Neu ist da nur das Puzzeln als Thema und das ist doch entschieden zu wenig für einen 90-minütigen Spielfilm. – Dann doch lieber selber puzzeln, als der Protagonistin dabei zuschauen.

 

Howl: 1957 stand Allen Ginsberg wegen seines Gedichts „Howl“ wegen des Vorwurfs der Obszönität vor Gericht.

Robert Epstein und Jeffrey Friedman rekonstruieren einerseits in Spielszenen den Prozess, flechten aber gleichzeitig in diese Ebene ein Interview mit Ginsberg, den ersten Vortrag des Gedichts in einer verrauchten Bar und Animationsszenen, in denen das Gedicht visualisiert wird ein.

Entstanden ist so ein facettenreicher Film, der eindringlich gegen Zensur und für Meinungs- und Redefreiheit plädiert. Allerdings sind die Prozessszenen eher hölzern inszeniert und so aufregend die Visualisierung des Gedichts ist, so fragwürdig bleibt sie, gilt doch für diese Vorgangsweise auch das, was ein Zeuge über die Umformung des Gedichts in Prosa sagte: „Das ist nun mal ein Gedicht und folglich nicht in Prosa übertragbar.“

 

Jud Süß – Film ohne Gewissen: Oskar Roehler erzählt nicht von der Produktionsgeschichte des nationalsozialistischen Hetzfilms „Jud Süß“, sondern fokussiert auf dessen Hauptdarsteller Ferdinand Marian. Abonniert auf die Rolle des charmanten Liebhabers, der er auch im Leben war, wird Marian von Goebbels in die Rolle des Jud Süß hineingedrängt. Im Stil durch die zurückgenommenen Farben und die melodramatische Handlung an die Nazi-Filme anknüpfend, bleibt der Film sehr konventionell und lässt nicht nur das bei Roehler zu erwartende Schrille, sondern auch einen Standpunkt der Regisseurs gegenüber dem Stoff weitgehend vermissen. Dazu kommt gegen Ende hin ein Abgleiten in schludriges und kurzatmiges Abhaken von Situationen.

 

Greenberg: Während des Urlaubs der Familie Greenberg soll sich der 40-jährige, nach einem Nervenzusammenbruch soeben aus der Klinik entlassene Bruder um die Los Angeleser Villa Haus kümmern. Hilfe kann Roger, falls nötig, bei der jungen Assistentin der Greenbergs holen.

So entwickelt eine labile Beziehung zwischen Roger und Florence, die – ganz nach dem zentralen Motto des Films „Hurt people hurt people“ - selbst innerlich verletzt und unsicher sich immer wieder gegenseitig verletzen.

 

Zeit des Zorns: Der Iraner Rafi Pitts verknüpft in „Zeit des Zorns“ die fiktive Handlung über Radioberichte direkt mit den iranischen Präsidentschaftswahlen 2009 und den damit verbundenen Demonstrationen: als der vor kurzem aus der Haft entlassene Ali eines Abends nach Hause kommt, findet er weder seine Gattin noch die sechsjährige Tochter vor. Verzweifelt macht er sich auf eine erfolglose Suche, bis ihn die Polizei bittet, eine Tote zu identifizieren. Ali erfährt, dass seine Frau bei einem Schusswechsel im Zuge der Demonstrationen umgekommen sei. Der Täter könne nicht mehr festgestellt werden.

Alis sechsjährige Tochter bleibt vorerst verschwunden, die Suche führt den verzweifelten Vater durch überfüllte Krankenhäuser, wo wieder langes Warten angesagt ist, bis die Polizei ihn bittet, eine weitere Leiche zu identifizieren. Schweigend nimmt Ali das scheinbar zur Kenntnis, besucht seine Eltern, wobei er die tragischen Ereignisse verheimlicht. Dann packt er sein Jagdgewehr aus und erschießt zwei Polizisten.

Bald ist die Polizei Ali auf der Spur und es kommt zu einer wilden Verfolgungsjagd durch den Wald. Nach einem Unfall flüchtet Ali zu Fuß weiter, wird aber bald von zwei Polizisten geschnappt, doch diese finden den Weg zurück nicht mehr. Der ältere Polizist will Ali, dem sowieso die Todesstrafe drohe, erschießen, der jüngere hält ihn davon ab. Scharfe Kritik an der Polizei findet sich hier, wenn der jüngere Ali gegenüber erklärt, dass er diesen Job nur mache, weil er das im Rahmen des Militärdiensts müsse, während sein korrupter Kollege diesen Beruf freiwillig gewählt habe.

Was als Studie der Entfremdung im modernen Teheran beginnt, wird so im Mittelteil fast zu einem Actionfilm, ehe am Ende ein Umschwung ins Psychodrama folgt. Fast wichtiger als die Geschichte scheint aber die Atmosphäre, denn in verwaschenen Winterfarben, in der Wortkargheit und im reduzierten Musikeinsatz evoziert Pitts eine Stimmung, die auf die Freudlosigkeit und die Zwänge des iranischen Lebens verweist.

 

Panorama:

Besouro: Der Brasilianer Ailton Carmo erzählt in seinem 1924 spielenden Film vom Kampf der brasilianischen Schwarzen für Gleichberechtigung und gegen das Verbot des Kampftanzes Capoeira. Wie ein Käfer – Besouro heißt Käfer - taucht die fliegende Kamera in den Markt ein und erzählt dann von Besouros Auftrag den schwarzen Aktivisten Meister Alipio zu beschützen. Durch seine Unachtsamkeit wird dieser aber getötet und Besouro zieht sich zurück um in sich zu gehen, kehrt dann zurück um den Kampf gegen die Weißen aufzunehmen und beseelt förmlich seine Mitkämpfer.

Wie im Martial-Arts-Film fliegen die Kämpfer durch die Luft, holzschnittartig sind die Figuren gezeichnet, keine Hintergründe werden erläutert und der politische Gehalt wird mit einer Dreiecksgeschichte aufgepeppt. Vor allem Unterhaltung soll hier geboten werden und das gelingt mit der kraftvollen und farbenprächtigen Erzählweise allemal.

 

Por tu culpa: Hautnah folgt die Kamera Julieta zunächst beim Spiel mit den beiden Kindern in der Wohnung. Nicht bändigen kann sie die Kleinen, dann sollte sie am Computer arbeiten, wird aber von ihnen gestört. Ins Bett sind sie auch nicht zu bringen, schalten immer wieder den Fernseher ein und beginnen schließlich um ein großes Spielzeugauto zu streiten. Als die Mutter eingreift, stürzt der kleine Theo und schlägt sich den Kopf schwer an der Wand an. Sofort packt Julietta das Nötigste zusammen und fährt mit Theo und dem etwas älteren Valentin ins Krankenhaus. Dort muss sie zunächst lange warten, dann kommt ein Arzt, beginnt zu untersuchen und stellt andere Verletzungen fest, die in ihm den Verdacht wecken, dass die Mutter, die Kinder schlägt.

Fast in Echtzeit folgt die Argeninierin Anahi Berneri in quasidokumentarischem Gestus hautnah Julieta durch den Abend und die Nacht. Dabei wertet sie weder noch kommentiert sie, beschränkt sich aufs Zeigen der sichtlich überforderten Mutter und wie sie in einen schlimmen Verdacht geraten kann.

 

Forum:

El recuento de los danos: Nachdem die Argentinierin Inés de Oliveira Cézar in „La Extranjera“ die Iphigenie-Geschichte aktualisiert hat, legt sie nun eine moderne Version von „Ödipus“ vor: Ein junger Mann soll die Rentabilität einer Fabrik in der Provinz prüfen. Auf der Fahrt dorthin kommt wird durch ihn ein Autounfall verschuldet. Im Bestimmungsort angekommen erfährt er, dass der Fabrikdirektor ums Leben gekommen ist und der Betrieb von dessen Witwe und deren Bruder geleitet wird. Bald entwickelt sich eine Affäre zwischen dem jungen Mann und der Witwe.

Weitgehend wortlos, in langen ruhigen Einstellungen erzählt de Oliveira Cézar. Dialoge werden immer wieder von Fabriklärm und anderen Geräuschen überlagert. Fragmentarisch bleibt bei diesem meditativen Film die Erzählweise, große Leerstellen setzt die Regisseurin zwischen die einzelnen Szenen und die Aktualisierung des antiken Mythos wirkt mehr prätentiös als überzeugend.

Imani: Caroline Kamya verknüpft drei Geschichten, die sich an einem Tag in Uganda abspielen: Teenager, die in der Hauptstadt ein Breakdance-Projekt für sozialen Wandel veranstalten, geraten in Konflikt mit dem “Ghetto”-King, der alles kontrolliert. - Eine junge Frau aus einem Dorf arbeitet in einem vornehmen Haushalt in Kampala. Als sie Hilfe für ihre Schwester sucht, die unter häuslicher Gewalt leidet, wird ihre Situation ausgenützt. - Ein exhemaliger Kindersoldat im Norden des Landes kehrt schwer traumatisiert zu seiner Familie zurück.

Die Geschichten werden parallel erzählt, sind aber nicht wirklich miteinander verknüpft. Überzeugend in der Herausarbeitung von Klassengegensätzen und sozialen Problemen entwickelt sich durch den häufigen Wechsel zwischen den Geschichten kein wirklicher Erzählfluss. Für das Milieu ist das allerdings zu schön fotografiert und auch recht vereinfachend und plakativ, sichtlich auf ein größeres Publikum schielend.

Portait of a Fighter as a Young Man: Mit quasidokumentarischem Gestus und durch Inserts zu Zeit und Ort historisch genau verankert schildert Constantin Popescu den Widerstand unterschiedlichster rumänischer Gruppierungen gegen die Präsenz der sowjetischen Armee in den unmittelbaren Nachkriegsjahren. Die leuchtenden Wiesen und idyllischen Wälder stehen in scharfem Kontrast zur Brutalität, mit der der Kampf geführt wird: Ein brutales Abschlachten auf beiden Seiten, bei dem von Seiten der Kommunisten auch Folter mit Nägel- und Zahnziehen zur Durchsetzung der Interessen eingesetzt. – Unsentimental und ohne jede Heldenverklärung, für Rumänien sicherlich von großem historischen Wert, weitet der Film den Blick aber kaum über die akribische Schilderung der historischen Ereignisse.

Orly:  Gedreht am echten Flughafen Orly, erzählt Angela Schanelec mehrere sich nur teilweise Geschichten von Wartenden: Eine Frau beginnt ein zunehmend intensiveres Gespräch mit einem ihr unbekannten Mann, eine Mutter und ein Sohn, die zum Begräbnis des Vaters reisen, offenbaren sich gegenseitig Geheimnisse. Ein junges Tramper-Paar verliert sich selbst gewissermaßen aus den Augen. Und eine Frau liest einen Brief des Mannes, den sie vor kurzem verlassen hat. – Was viel versprechend beginnt, wird mit Fortdauer durch die Beschränkung auf die Dialogebene ermüdend.

 

Berlinale Special:

Revolucion: 10 mexikanische Regisseure haben anlässlich des 100. Jahrestages der Revolution etwa zehnminütige Kurzfilme gedreht, die alle in der Gegenwart spielen. Carlos Reygadas zeigt im Stile eines Home-Movies ein Fest auf dem Lande, das in Protestaktionen gegen die USA ausartet. Patricia Riggen erzählt von einem mexikanischen Emigranten, der nach seinem Tod unbedingt in seiner Heimat begraben werden möchte. In Gerardo Naranjos „R 100“ greift ein Landarbeiter zu drastischen Mittel um ein Motorrad zu stoppen, mit dem er seinen verletzten Freund in die Stadt bringen will und Mariana Chenillo erzählt von einer Supermarktangestellten, die entlassen wird, als sie gegen die Bezahlung durch Gutschein protestiert, die nur für das eigene Geschäft gelten. Die gelungenste Episode dieses inhomogenen Omnibus-Films ist vielleicht Fernando Eimbckes Beitrag: In Schwarzweiß erzählt er mit dem für ihn typischen lakonischen Humor von den Vorbereitungen in einem Dorf, das einen besonderen Gast erwartet, der dann doch nicht erscheint. In einem Akt der Revolution spielt der junge Posaunist, der die ganze Nacht dafür geprobt hat, dann eben alleine, während alle anderen den Festplatz verlassen.

 L´autre Dumas: Der große Alexandre Dumas hatte in Auguste Maquet einen Mitarbeiter, der ihn bei seinen Romanen wesentlich unterstützte. Safy Nebbou erzählt in seinem großartig ausgestatteten und fotografierten Film, von einer Episode, bei der sich Maquet aus Liebe zu einer Frau als Dumas ausgab bzw. das Missverständnis nicht aufklärte. Am Rande verknüpft ist diese Geschichte mit dem Ausbruch der Revolution von 1848.

Zwar ist dem mit Gerard Depardieu und Benoit Poelvoorde hervorragend besetzte Kostümfilm die Herkunft vom Theater in einigen Szenen anzusehen und auch der wirkliche Pfiff fehlt, dennoch unterhält man sich mit „L´autre Dumas“ recht kurzweilig.

 Cosa vogliu di più – What More Do I Want: Silvio Soldini erzählt von einer im Grunde in einer glücklichen Beziehung lebenden Frau, die sich dann aber doch die Frage stellt, ob das nun wirklich alles war, was man vom Leben erwarten kann. Als sie zufällig Domenico begegnet, ist das der Beginn einer leidenschaftlichen Affäre, aus der aber nie mehr wird, da Domenico verheiratet ist und zwei Kinder hat.

Differenziert in der Ausleuchtung der verschiedenen Personen und ohne Wertung, versteht es Soldini den Zuschauer zu bewegen, überspannt den Bogen vielen Hin und Her und insgesamt 126 Minuten aber doch etwas.


Preise der Intenationalen Jury unter Werner Herzog:

Goldener Bär: Bal (Honey) von Semih Kaplanoglu (Türkei)

Silberner Bär - Großer Preis der Jury Eu cand vreau sa fluier, fluier (If I Want To Whistle, I Whistle) von Florin Serban


Silberner Bär - Beste Regie
- The Ghostwriter von Roman Polanski
 

weitere Sieger der Berlinale siehe - Originalseite der Berlinale


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