55. Berlinale: Familiengeschichten
Walter Gasperi berichtet für den FKC von der Berlinale 2005
(10. - 20. Feb. 2005)


 

343 Filme wurden auf der 55. Berlinale gezeigt. – Nur ein Bruchteil des Programms kann innerhalb der 10 Tage des Festivals  besucht werden und so gewinnt jeder Zuschauer einen anderen, jeweils von seiner individuellen Filmauswahl abhängenden Eindruck vom Festival.

 

Auch die gesehenen Filme kann man nie auf einen Nenner bringen, in der wiederkehrenden Auseinandersetzung mit der Familie lässt sich aber vielleicht doch eine Tendenz feststellen.

Familienkomödien sind in den USA fast ein eigenes Subgenre. Immerhin kann man damit eine weit gestreute Besuchergruppe ansprechen.
Paul Weitz erzählt In Good Company von einer intakten Familie: Der 50jährige Vater ist Anzeigenleiter eines Sportmagazins, die Mutter wird überraschend nochmals schwanger, die ältere Tochter will zwecks Studiums ausziehen.

Doch dann übernimmt ein großer Konzern das Sportmagazin. Andere werden entlassen, Papa kommt mit einem blauen Auge davon: Er wird in die zweite Reihe versetzt und seinen Job übernimmt der halb so alte Karrierist Carter.

Nett, aber in seiner Harmlosigkeit verlogen erzählt Weitz einerseits von der rauen Arbeitswelt in Zeiten der Globalisierung und  singt andererseits das uramerikanische Lied vom erfolgreichen Geschäftsmann, der trotz Porsche und Top-Wohnung unglücklich und einsam ist, eine Entwicklung durchmachen muss und schließlich in einem harmonischen Familienleben den einzig wahren Wert erkennt.

 

Ein Team und gleichzeitig auch eine große Familie sammelt auch Steve Zissou in Wes Andersons The Life Aquatic um sich. Mit potentiellem Sohn – Pater semper incertus est – Ehefrau, deutschem Kameramann, Reporterin, einem Afroamerikaner, der mit Vorliebe David-Bowie –Songs auf Portugiesisch singt sowie einigen Technikern macht sich der von David Murray wunderbar lakonisch gespielte Zissou auf die Jagd nach dem Tigerhai, der seinen Partner zerfleischt hat.

Wie The Royal Tenenbaums fehlt es auch The Life Aquatic nicht an schrulligen Details wie hellblauen Anzügen und roter Wollmütze des Teams oder speziellen blauen Adidas-Turnschuhen und witzigen Einfällen, doch diese gewinnen so überhand, dass sich diese Komödie, die auch eine Hommage an Yves Cousteaus Unterwasserfilme ist, nie zu einem homogenen Ganzen fügt, sondern in seine Einzelteile zerfällt.

 

Hinreißend politisch unkorrekt ist das freilich immer noch, wenn Zissou beispielsweise einen Joint raucht oder auf die Aussage seines Konkurrenten „Wir sind doch verschieden – Ich bin bisexuell!“ antwortet: „Das sind wir doch alle.“ Über eine so offene Aussage gefreut hätte sich sicher der Sexualforscher Alfred Kinsey (1894-1956), den Bill Condon in seinem Biopic porträtiert. Geschickt übernimmt Condon dabei Kinseys Befragungsmethode. Von einem Interview ausgehend wird auf entscheidende Lebensstationen Kinseys zurückgeblendet: Die Moralpredigten des Vaters, das Biologiestudium und die Erforschung der Gallwespe. Als er an der Uni erkennt, wie wenig seine StudentInnen sexuell aufgeklärt sind, beginnt er sich damit auseinanderzusetzen, wird zum Aufklärer, der sich entschieden für (sexuelle) Freiheit des Individuums und gegen gesellschaftliche Normierung einsetzt.

Im energischen Spiel Liam Neesons, im warmen Licht von Frederick Elmes Kamera und in der – zumindest in der ersten Hälfte - kraftvollen Inszenierung ist Kinsey ein lustvoller Film, der sein Thema auch durch die Form transportiert und einen informativen Einblick in Alfred Kinseys Leben bietet.

Wohl zu verklärt zeigt Condon das Familien- und Eheleben der Kinseys, bei denen offen mit den Kindern über Sex diskutiert wird und Mann und Frau auch gegenseitig einen Seitensprung mit einem Mitarbeiter akzeptieren.

 

Verschlossener ist dagegen die Familie in Gu Changweis Kong Que (Der Pfau). Dreimal setzt der Film mit einem Familienessen auf der Veranda im Jahre 1977 an und erzählt hintereinander aus der Perspektive der drei jugendlichen Kinder von ihrem Lebensweg. - Keine heile Familie: Der seit einem Hirnfieber fettleibige und geistig behinderte ältere Bruder wird nicht nur von fremden Kindern, sondern auch von seinen Geschwistern gequält. Die Tochter würde gern Fallschirmspringerin werden und landet dann doch in einer Fabrik beim Waschen von Flaschen. Und der jüngste Sohn verschwindet still und heimlich. – Am Ende kehren aber doch wieder alle zu ihren Eltern zurück.

Gu Changwei, der sich bisher als Kameramann von Zhang Yimou, Chen Kaige und Robert Altman einen Namen gemacht hat, erzählt diese sehr private Geschichte in perfekt komponierten, langen ruhigen Einstellungen. Meisterhaft sind die Farben in dieser in Blau und Grau getauchten Familiengeschichte aufeinander abgestimmt und doch fehlt es dem ebenso stillen wie schönen Film an Kraft. Inhaltlich etwas dünn wirkt dieses Lob auf die Familie und die kleinen Dinge des Alltags und als Manko erweist sich auch die fehlende Verschränkung der drei Erzählungen.

 

Weiter zurück in die Geschichte greift Yoji Yamada mit The Hidden Blade. In diesem Samuraifilm zeigt Yamada formal meisterhaft, aber sehr konventionell, wie die strengen gesellschaftlichen Regeln und die Verpflichtungen gegenüber den Clansherren dem privaten Glück im Weg stehen können. Von Anfang an liebt der Samurai Katagiri die Haushaltshilfe Kie, doch die Standesgrenzen verhindern eine Heirat. Erst die Aufgabe seines Status ermöglichen diese.

The Hidden Blade ist das genaue Gegenteil von Kitanos Zatoichi. Die Ironie Kitanos fehlt Yamada völlig und statt für Kämpfe interessiert er sich für die detailgenaue Beschreibung des Alltagslebens und der Gesellschaftsstrukturen.

 

Zupackender ist der Stil Raoul Pecks (Lumumba), der sich in Sometimes in Africa mit dem Völkermord in Ruanda auseinandersetzt. Auch hier steht eine Familie im Mittelpunkt und indem Peck den Genozid, dem rund eine Million Tutsis zum Opfer fiel, am Schicksal einer Familie festmacht, involviert er den Zuschauer ins Geschehen, erzeugt emotionale Anteilnahme und reißt mit. Der pädagogische Gestus ist zwar nicht zu übersehen, dennoch gelingt Peck wie in Lumumba die Verknüpfung von Information und packendem Erzählen.

 

Auf einen anderen Kriegsschauplatz hat Luis Mandoki seinen Blick gerichtet. In Voces Inocentes schildert der Amerikaner „nach einer wahren Geschichte“ die Erlebnisse des 11jährigen Chava. Im El Salvador der 80er Jahre des 20. Jahrhunderts herrscht Bürgerkrieg. In Chavas Dorf kommt es immer wieder zu Kämpfen zwischen den von den USA unterstützten Regierungstruppen und den Guerilleros. Der Vater hat die Familie verlassen, Chava ist mit der Mutter und zwei jüngeren Geschwistern allein zurück geblieben und muss damit rechnen bei Erreichen des 12. Lebensjahres von der Armee rekrutiert zu werden.

Das Thema ist erschütternd, doch Mandoki macht falsch, was man nur falsch machen kann. In einem platten oberflächlichen Pseudorealismus, der im Grunde nach den Mustern des US-Kinos konstruiert ist, glaubt er jede Gräueltat bis zur Tötung von Kindern durch Kopfschüsse zeigen zu müssen, doch nie gelingt es ihm sich der verwundeten Seele dieser Menschen zu nähern. Kalkuliert wirkt auch die jeder Dramaturgie entbehrende Szenenabfolge mit dem Wechsel von Massaker und Familienszene, Schule und Liebe zu einer Klassenkollegin. Wie viel berührender Traumatisierung von Kindern durch den Krieg dargestellt werden kann, zeigte in Berlin Bahman Ghobadi mit seinem zutiefst erschütternden, weil unverfälschten Flüchtlingsdrama Turtles Can Fly (vgl. www.kultur-online.net).

 

Harmlos wirkt im Vergleich dazu Alain Corneaus Les Mots Bleus, in dem die Mutter ihre Traumatisierung auf die etwa 8jährige Tochter überträgt und bei ihr eine Sprechverweigerung bewirkt. Dass in diesem Psychodrama ein Super-Lehrer – natürlich unverheiratet - auftauchen und Mutter und Tochter von ihrer Angst befreien wird, ist bald klar. - Ein nach allen Drehbuchregeln inszeniertes, hervorragend gespieltes (Sylvie Testud, Sergi Lopez), aber im Inneren hohles Kunstprodukt, dem jede Wahrhaftigkeit und alles Leben förmlich ausgetrieben ist.

 


 

Weitere Artikel zur Berlinale unter: www.kultur-online.net – Rubrik „Film“



und so urteilte die Jury:

Goldener Bär 

U-CARMEN eKHAYELITSHA 

von Mark Dornford-May

Großer Preis der Jury - Silberner Bär 

KONG QUE | Der Pfau 

von Gu Changwei

Silberner Bär für die beste Regie 

Marc Rothemund 

für seinen Film

SOPHIE SCHOLL – DIE LETZTEN TAGE 

Silberner Bär für die beste Darstellerin

Julia Jentsch 

für ihre Rolle in dem Film

SOPHIE SCHOLL – DIE LETZTEN TAGE 

von Marc Rothemund

Silberner Bär für den besten Darsteller  

Lou Taylor Pucci 

für seine Rolle in dem Film

THUMBSUCKER 

von Mike Mills
 

Silberner Bär für eine herausragende künstlerische Leistung

Tsai Ming Liang 

für das Drehbuch zu seinem Film

TIAN BIAN YI DUO YUN | The Wayward Cloud 

Silberner Bär für die beste Filmmusik 

Alexandre Desplat 

für die Musik zum Film

DE BATTRE MON CŒUR S’EST ARRETE | Der Schlag, der mein Herz verspielte 

von Jacques Audiard

 

Der AGICOA-Preis Der Blaue Engel, mit 25.000 Euro der am höchsten dotierte Preis, für den besten europäischen Film, geht an

PARADISE NOW 

von Hany Abu-Assad

 

Der Alfred-Bauer-Preis, in Erinnerung an den Gründer des Festivals, geht an einen Film, "der neue Perspektiven der Filmkunst" eröffnet:
 

TIAN BIAN YI DUO YUN | The Wayward Cloud 

von Tsai Ming Liang
 
Preise der Internationalen Kurzfilmjury
   
 
Die Mitglieder der Internationalen Kurzfilmjury,
Gabriela Tagliavini (Argentinien), Marten Rabarts (Neuseeland), Susan Korda (USA), 
vergeben im Wettbewerb die folgenden Preise für kurze Filme:

Goldener Bär für den besten Kurzfilm 

MILK 

von Peter Mackie Burns
 
Der Film ist die beeindruckende Umsetzung eines außergewöhnlichen Drehbuchs. Die Darstellung von wieder gewonnener Nähe nach einem Konflikt zwischen Generationen sowie die schauspielerischen Leistungen und das filmische Handwerk haben die Jury überzeugt.
Der Preis der Jury - Silberner Bär geht 2005 an zwei Filme, deren Filmemacher das Menschsein an sich mit ihren filmischen Ausdrucksmitteln untersuchen – sie sind ebenso eindeutig wie unterschiedlich:

Preis der Jury – Silberner Bär

THE INTERVENTION | Die Einmischung 

von Jay Duplass
 
Für seinen unnachgiebigen Blick, sein starkes Portrait eines Mannes, der von einer Gruppe von Freunden herausgefordert wird, seine Maske fallen zu lassen und sich mit sich selbst zu konfrontieren.
 

Preis der Jury – Silberner Bär 

JAM SESSION 

von Izabela Plucinska
 
Ein wundervoller Animationsfilm, der einen deutlichen und bildhaften Zugang zu einer Welt schafft, in der die berührende Geschichte einer alten Liebe erzählt wird, die zu neuem Leben erwacht.
 

Lobende Erwähnung  

DON KHISHOT BE’YERUSHALAIM | Don Quichote in Jerusalem 

von Dani Rosenberg
 
Für die einfache Verwendung von Metaphern, um die schmerzhafte Unüberwindbarkeit der Mauern – physischer wie auch emotionaler, die jetzt die israelischen und palästinensischen Menschen trennen – vor Augen zu führen.
 
 
Die Internationale Kurzfilmjury vergibt im Panorama die folgenden Preise für kurze Filme: 

Panorama Kurzfilmpreis

GREEN BUSH 

von Warwick Thornton
 
Für die herausragende schauspielerische Leistung und das filmische Handwerk in einem Film, der angefüllt ist mit Menschlichkeit, Ideen, Humor und Politik. Er erzählt die Geschichte des täglichen Kampfes eines Mannes, der versucht, seine auseinander brechende Gemeinschaft zusammenzuhalten und seinen Schmerz darüber zu unterdrücken.

Spezialpreis der Jury 

TAMA TU 

von Taika Waititi
 
Die Jury hat entschieden, einen Panorama Jury Spezialpreis an einen hervorragenden Film zu vergeben, der es uns erlaubt zu erfahren, wie eine Gruppe von Menschen, die sehr weit weg von Zuhause ist, Kraft findet in ihren gemeinsamen kulturellen Wurzeln. Sie entwickelt Widerstandskraft und Humor, um unter den extremen Bedingungen eines Kriegsschlachtfeldes zu bestehen.

Lobende Erwähnung 

Rhee Young-ran 

für ihre Rolle in dem Film

SARA JEANNE 

von Kim Seong-Sooks 
In der Titelrolle ihres anrührenden Portraits einer Frau, die in die tragische Unsichtbarkeit des Alterns verfällt. 

Lobende Erwähnung 

BIKINI 

von Lasse Persson
 
Für die elegante Kombination von grafischem Stil, engagierter Charakterisierung und scharfsinnigem Humor.
 

Förderpreis der New York Film Academy 

ZGVIS DONIDAN… | Auf Augenhöhe 

von George Ovashvili
 
Die Jury erkennt den geschickten und sicheren Umgang mit einer Geschichte an, die die Lebhaftigkeit und Verspieltheit der Jugend und des Verlangen einfängt, ohne die Darsteller ein einziges Wort sprechen zu lassen.
 

Prix UIP Berlin

 
Eine Initiative von UIP und der Europäischen Filmakademie in Kooperation mit den Internationalen Filmfestspielen Berlin. Der Preis ist mit € 2.000 dotiert und beinhaltet eine automatische Nominierung für den Europäischen Filmpreis 2005. Der Gewinner wird aus den Kurzfilmen des Wettbewerbs und des Panoramas gewählt.
 
Die Internationale Kurzfilm Jury vergibt den Prix UIP Berlin an den Film 

HOI MAYA | Hi Maya 

von Claudia Lorenz
 
An einen Film, der die Erinnerung, das Sehnen und die Standhaftigkeit des menschlichen Herzens mit der Genauigkeit und der reinen Freude in den Leben ihrer Figuren feiert.


Link zur Berlinale - Dokument im pdf-Format

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