Bericht vom 56. Intern. Filmfestival Locarno 2003

von Walter Gasperi
 

56. Filmfestival von Locarno – 1.  Zwischenbericht

 

Mehr noch als die Dicke und das Gewicht des Festivalskatalogs nimmt die Zahl der Filme von Jahr zu Jahr zu. Ein neuer Höchststand wurde jetzt mit –Kurz- und Videofilme inkludiert - 440 erreicht und die erste, für den Besucher wohl schwierigste Aufgabe besteht darin, sich einen Weg durch den Programmdschungel zu suchen, eine Auswahl zu treffen und sich ein eigenes Programm für die zehn Tage zusammenzustellen.

Die 115 Filme umfassende Retrospektive zum Thema „Film und Jazz“ mag dabei mit Klassikern wie Louis Malles „Fahrstuhl zum Schaffott“, Otto Premingers „Anatomie eines Mordes“ oder Bertrand Taverniers „Round Midnight“ zwar echte Perlen bieten, fällt dabei leider fast ganz durch den Rost: Neue Produktionen werden vorrangig behandelt und Zeit bleibt nur für  Vincente Minnellis 1953 gedrehtes Musical „The Band Wagon“, das als Eröffnungsfilm auf der Piazza gezeigt wurde.

Nichts hat dieser Film innerhalb des letzten Jahrhunderts freilich an Reiz verloren, in keinster Weise ist er gealtert, immer noch bietet er in seinen leuchtenden Technicolorfarben, in seinen mitreissenden Tanz- und Gesangsnummern ein uneingeschränktes, wunderbar leichtes und hinreissend selbstironisches Kinovergnügen. 


Konnte die Zeit „The Band Wagon“ nichts anhaben, so wirkt Dominique De Rivaz hier uraufgeführter „Mein Name ist Bach“ schon jetzt altmodisch. Jede Kinomagie, jede Poesie fehlt dieser Geschichte über eine Begegnung Johann Sebastian Bachs mit Friedrich II. von Preussen. Die Kostüme sind gelungen, die Farben gut abgestimmt – doch dies kann ebensowenig wie die hervorragenden Darsteller (Vadim Glowna, Jürgen Vogel) diesem kunstgewerblichen Bilderbogen Leben einhauchen. Kraftlos reiht sich Szene an Szene, viele Themen wie das Verhältnis von Künstler und Herrscher werden kurz angetippt, aber nichts wird vertieft.

An dieser thematischen Unentschiedenheit, am Verlust des erzählerischen Zentrums, zerbricht im zweiten Teil auch Fiorella Infascellis Wettbewerbsbeitrag „Il vestito da Sposa“ („Das Brautkleid“). Nach der drastischen Darstellung einer brutalen Vergewaltigung zeichnet die Italienerin zunächst unspektakulär, aber intensiv das Psychogramm der von diesem Verbrechen gezeichneten Stella. Aus den Fugen gerät der Film aber, als sich der Verkäufer des Brautkleids, der zugleich einer der Vergewaltiger ist, in Stella verliebt. Zunehmend abstrus wird die Geschichte, die schliesslich durch einen notdürftig eingefügten Unfall zu einem Ende gebracht wird.

Gemeinsam ist diesem Film freilich mit zahlreichen anderen, bisher gezeigten Wettbewerbsfilmen die Einbettung der Erzählung in eine grosse, den ganzen Film umspannende Rückblende.

In Catherine Hardwickes „Thirteen“ schlagen sich in der Eröffnungsszene zwei amerikanische Teenager gegenseitig um überhaupt noch etwas zu fühlen, ehe ein Insert eine Rückblende einleitet und Tracys Entwicklung während der letzten vier Monate geschildert wird. Um in die Clique von Evie, des heissesten Mädchens der Schule aufgenommen zu werden, ändert die Musterschülerin Tracy ihr Verhalten grundlegend. Ihre alten Kleider landen im Mülleimer, Geld für hippe Klamotten und auch die Anerkennung Evies beschafft sie sich durch Diebstähle. Gegen ihre Mutter rebelliert der Teenager zunehmend, auch Piercing an Zunge und Bauchnabel dürfen nicht fehlen und Alkohol, Drogen und Sex gehören bald zu Tracys Alltag. Dicht und authentisch erzählt die Amerikanerin diese Pubertätsgeschichte und fängt mit der sehr mobilen Handkamera, die immer nah an den Personen ist, überzeugend das von der Werbung und von Vorbildern wie J Lo bestimmte Konsumverhalten der Teenager ein. Ein bitterer Kommentar zur schicken und im Grunde heilen Welt der Teenager-Filme und -Serien ist das zwar, allerdings setzt Hardwicke im Bemühen Teenager anzusprechen leider mehr auf grelle Effekte als auf leise Zwischentöne.


In ein ganz anderes Milieu entführt der Franzose Jean-Marc Moutout in „Violence des échanges en milieu tempéré“ den Zuschauer. In einem Büro von Unternehmensberatern im Pariser Büroviertel La Defense tritt Philippe – alles wird sich am Ende als eine Erinnerung von ihm herausstellen - einen Job an. Weil er seine Aufgaben zur Zufriedenheit des Arbeitgebers löst, wird er bald befördert: er soll das Personal durchleuchten und zwecks Einsparungen Entlassungen vorschlagen. – Kalt, aber präzise blickt Moutout in seinem nüchtern inszenierten, an die Werke von Laurent Cantet („Le Temps d’ emploi“) erinnernden Film auf die Welt der Manager: Mitspielen und andere vernichten oder aussteigen aus dem Job sind die Alternativen. Wer freilich mitspielt, den verändert der Job: Aus dem sympathischen Philippe wird ein eiskalter Karrierist.


Vergnüglicher geht es dagegen beim Engländer Nigel Cole zu, dem mit „Calendar Girls“ eine typische englische Komödie gelungen ist. Um Geld für Verbesserungen im städtischen Spital aufzutreiben, beschliessen einige Mitglieder des örtlichen Frauen-Clubs sich für den nächsten Kalender nackt ablichten zu lassen. Gegen Widrigkeiten setzen sich die 50-60jährigen Damen durch und landen mit ihrem Unternehmen einen vollen Erfolg, das ihnen schliesslich sogar eine Einladung nach Hollywood bringt.

Cole erzählt tempo- und einfallsreich, zeichnet detailreich und liebevoll die hinreissend gespielten Damen und bettet den Film geschickt in die von Steinmauern durchzogene grüne englische Hügellandschaft ein. Zu hoffen bleibt, dass die deutsche Synchronisation diesem Feelgood-Movie nicht allzu viel von seinem Charme und Witz raubt.




2. Teil

Harmonie und Chaos, Krieg und Geld, Liebe und Fussball

56. Internationales Filmfestival von Locarno

 

Idyllisch liegt das Hausboot, das gleichzeitig das Kloster eines Mönchs und seines Schülers ist, mitten in einem von Wäldern umgebenen See. Nichts kann die Ruhe und Harmonie dieses Ortes, der der einzige Schauplatz von Kim Ki-duks „Spring, Summer, Fall, Winter ... and Spring“ ist, stören. Das Ambiente unterscheidet sich durch nichts von dem in "The Isle", durch den der Südkoreaner vor drei Jahren berühmt wurde, doch die damals in die Idylle einbrechende Gewalt, die im Verschlingen von Angelhaken kulminierte, fehlt hier.

Magische Bilder der aufeinander folgenden Jahreszeiten lassen den Zuschauer ebenso in diese Welt eintauchen wie der wunderbar ruhige Erzählrhythmus. Entsprechend dem Titel gliedert sich der Film in fünf Kapitel, jedes wird mit einer sich öffnenden Tür eingeleitet und jede Jahreszeit steht für einen Lebensabschnitt.

Im Frühling lädt der Schüler im Kindesalter durch Tierquälereien Schuld auf sich, durch die er sein Leben lang belastet werden wird. Im Sommer erwacht im Herangewachsenen das sexuelle Verlangen nach einer jungen Frau, die zur Behandlung das Kloster aufsuchte. Der Jüngling verlässt die Abgeschiedenheit, kehrt im Herbst und im Alter von 30 Jahren aber zurück. Wie sein Lehrer prophezeite, führte das Verlangen zu Besitzgier und endete im Mord an der Gattin. Nun sucht er Zuflucht im Kloster, leistet hier schon Busse, kann sich aber auch der weltlichen Gerichtsbarkeit nicht entziehen. Nach Abbüssung seiner Strafe kehrt er aber an diesen Ort zurück und übernimmt im Winter die Stelle des inzwischen gestorbenen Lehrers, sodass im Frühling der Kreislauf von Neuem beginnen kann.

Ganz von seinen Bildern und Stimmungen legt Kim Ki-duks Film, die Dialoge sind auf ein Minimum reduziert. Mögen auch die buddhistischen Symbole wie die hier auftauchenden Tiere (Schlange, Schildkröte, Fisch und Frosch) für den westlichen Zuschauer kaum erschliessbar sein, so wird doch auch dieser durch die formale und inhaltliche Geschlossenheit in den Bann dieses ruhigen Films gezogen werden.


 Chaos regiert dagegen in Barbara Alberts „Böse Zellen“, die sich in ihrem zweiten Spielfilm auf Edward Lorenz´ Chaostheorie stützt. Der Flügelschlag eines Schmetterlings löst einen Tornado über dem Golf von Mexiko aus, der wiederum einen Flugzeugabsturz nach sich zieht. Nur die 24jährige Manu überlebt die Katastrophe, kommt aber 6 Jahre und 15 Filmminuten später bei einem Autounfall in ihrer niederösterreichischen Heimat ums Leben. Jedes Ereignis hat aber Auswirkungen auf andere Personen und so verknüpft Albert mittels einer komplexen Montage Manus Schicksal mit dem ihres Mann, ihrer fünfjährigen Tochter, ihrem Bruder, ihren Freundinnen und den Insassen des Autos, mit dem sie kollidierte. Nicht linear wird hier erzählt, sondern im Stil von P.T. Andersons "Magnolia" entwickelt Albert ein dichtes, aber trotz der Fülle immer übersichtliches Geflecht an Personen und Schicksalen und springt kaleidoskopartig von einer Szene zur nächsten. Verbunden sind die Figuren durch die Suche nach dem ganz alltäglichen Glück, das auch die Werbefläche eines entstehenden Baumarkts mit der Aufschrift „Wir machen sie glücklich“ verspricht.

Was bringt aber in dieser aus den Fugen geratenen Welt, in diesem stets vom Tod bedrohten unberechenbaren Leben wirklich Glück und Sicherheit: Von spiritistischen Sitzungen über eine psychotherapeutische Familienaufstellung, eine Kirchenchorprobe, Rubbellose und Moneymaker bis zur TV-Talkshow „Verzeihe mir“, in der die Gäste öffentlich ihre Fehler bekennen, spannt sich der Bogen der Szenen. Auf Antworten wird verzichtet, unheimliche Stimmung und ein Gefühl des Ausgeliefertseins an eine höhere Macht wird evoziert,  wenn die Kamera wie in einem Horrorfilm immer wieder aus der Vogelperspektive auf die Figuren blickt gleichsam die Perspektive einer höheren Macht übernimmt und die Menschen eingesperrt und machtlos dem Schicksal unterworfen scheinen.

Nicht weniger schonungslos als Ulrich Seidl blickt Albert in die Abgründe der menschlichen Seelen, doch den Gemeinheiten und Brutalitäten stehen immer auch wieder Momente der Zärtlichkeit gegenüber und am Ende stehen vorsichtige neue Anfänge.

 


Auch im Bosnien der Nachkriegszeit herrschen keinesfalls geordnete Verhältnisse. Doch um bei einem Besuch Bill Clintons einen guten Eindruck zu machen und somit eventuell finanzielle Unterstützung zu erhalten, müssen in Pjer Zalicas "Gori Vatra" in Windeseile alle Missstände beseitigt und eine mustergültige Demokratie installiert werden. Wenn es ums Geld geht – oder westliche „Pampers“ dafür herausspringen – können sich auch bosnische und serbische Feuerwehrleute zur Zusammenarbeit durchringen. Aus den Prostituierten werden Revuetänzerinnen und auch der Bürgermeister der serbischen Nachbargemeinde stellt gegen finanzielle Versprechungen Gemeindemitglieder für einen multikulturellen Chor ab. Manchmal böse, aber dann auch wieder melancholisch, jedenfalls immer sehr unterhaltsam erzählt  der Bosnier diese menschliche Komödie, in der das Geld wichtiger als alle Ideologien ist.


Um Geschäftemacherei geht es auch in der absurden argentinischen Komödie „Los Guantes Mágicos“ („Die magischen Handschuhe“). Zufällig kommt der Taxifahrer Alejandro, den seine depressive Freundin soeben verlassen hat, in Kontakt mit einer Stewardess, einem Rockmusikproduzenten und einem Pornodarsteller. Finanziell geht es ihnen allen nicht wirklich schlecht und so leben sie in den Tag hinein und warten auf eine Veränderung, die von außen kommen soll. Großen Gewinn erhoffen sie schließlich durch den Handel mit magischen Handschuhen zu machen.

Ganz vom trockenen Ton, mit dem hier absurde Situationen erzählt werden, und der genauen Zeichnung der sonderbaren Figuren lebt Martin Rejtmans dritter Spielfilm. Doch der Blick auf die Personen entpuppt sich auch als Blick auf das in die Wirtschaftskrise geratene Land: Wie Alejandros Fahrten im Grunde nirgends hin führen so scheint sich auch Argentinien insgesamt in einer Kreisbewegung zu befinden.


Leichtere Kost boten dagegen die auf der Piazza gezeigten Filme wie zum Beispiel Philippe Le Guays „Le Cout de la Vie“ ("Die Kosten des Lebens"). Ganz von der Figurenzeichnung, den Dialogen und der Liebe für Details lebt diese typisch französische Komödie, die untersucht, welche Rolle das Geld im Leben einzelner Menschen spielt.

Mit spielerischer Leichtigkeit verknüpft Le Guay die Geschichte eines Geizhalses, eines Restaurantbesitzers, der immer einlädt und ausgibt, aber nicht fähig ist Geschenke anzunehmen, eines Unternehmers, der alles verkauft, und einer jungen Millionenerbin, die um ihrer selbst willen geliebt werden möchte. Kein Bindeglied besteht zwischen diesen und weiteren Figuren, mit denen sie in Kontakt treten, nur zufällig begegnen sich einige von ihnen – doch jede Szene dreht sich in diesem geistreichen Kaleidoskop um das Thema Geld, durch das der Film zusammengehalten wird.


Durch und durch französisch ist auch Jean Paul Civeyracs “Toutes ces Belles Promesses“. In fünf Kapiteln erzählt Civeyrac von einer jungen Musikerin, die sich über ihre Beziehung zu einem Kollegen im Unklaren ist, sich an ihre Eltern erinnert, auf eine Affäre ihres verstorbenen Vaters stößt und eine Reise zum Ferienhaus ihrer Kindheit unternimmt. In fließendem Rhythmus verschwimmen Gegenwart und Vergangenheit, Traum und Wirklichkeit und durch die sanften Kamerabewegungen, die Eleganz der Bilder und die Musik von Felix Mendelsson und Edith Piaf gewinnt Civeyracs Liebesfilm eine kaum zu überbietende Leichtigkeit und Zärtlichkeit. – Der vielleicht schönste Film des Festivals. 


Sehr deutsch ist dagegen Sönke Wortmanns „Das Wunder von Bern“, in dem eine Vater-Sohn-Geschichte mit dem deutschen Sieg bei der Fussball WM 1954 verknüpft wird. Im in tristes Blau und Grau getauchten Ruhrgebiet hat der etwa 12jährige Matthias Lubanski in Helmut Rahn, einem Stürmer von Rot-Weiss Essen und Nationalspieler, einen Ersatzvater gefunden. Erst im Lauf des Films wird sein leiblicher Vater aus der sowjetischen Kriegsgefangenschaft zurückkehren. Während dieser für das Deutschland der Kriegszeit steht, symbolisiert ein junger Münchner Sportreporter und werdender Vater das sich anbahnende Wirtschaftswunder und der deutsche Bundestrainer Sepp Herberger erscheint als Bindeglied zwischen allen Generationen und Vater aller Deutschen.

Sentimental, ganz im Stile des deutschen Films der 50er Jahre erzählt Wortmann die fiktive Vater-Sohn-Geschichte und mit viel Pathos in einer Parallelmontage der Weg der Deutschen zum WM-Titel. Emotional mag das durchaus wirken, doch jeder kritische Blick auf die zweifellos mit viel Liebe zum Detail rekonstruierte Zeit fehlt.

Aber auch im Handwerklichen und Dramaturgischen sind Wortmann einige grobe Fehler unterlaufen: Dilettanisch ist die Computeranimierung der Zuschauerkulisse im Wankdorf-Stadion, kulissenhaft wirken die Alpen, die Papa und Sohn Lubanski auf ihrer Fahrt vom Ruhrgebiet nach Bern – welche Route schlagen sie hier überhaupt ein? – überqueren.
 


Typisch Ulrich Seidl – heisst das auch typisch österreichisch? – ist wiederum „Jesus, du weisst“. Keine Bewegung macht die Kamera während der 87 Minuten, die dieser Dokumentarfilm dauert, auf jede Musik wird ebenso verzichtet wie auf einen Kommentar des Autors. Zu Wort kommen nur sechs Gläubige, die jeweils in der Kirche aus halbnaher Distanz frontal in die Kamera, die die Position des Altars oder die von Jesus übernimmt, ihren Dank und ihre Bitten vortragen und dabei immer wieder mit der Formulierung „Jesus du weisst“ beginnen.

Unterschiedliche Personen hat Seidl ausgewählt. Ein Jugendlicher beichtet seine sexuellen Fantasien und sein Wunsch ein Held zu sein, ein junges Paar schildert seine Beziehungsprobleme, eine Frau mittleren Alters bittet für ihren kranken Mann. - Nichts Spektakuläres, manchmal sogar Lächerliches wie die Änderung des amoralischen TV-Programms beichten oder erbitten diese Menschen, für die Jesus die Funktion eines Psychotherapeuten übernommen hat. - Ein in seiner Radikalität und Strenge beeindruckender Film, der Gefahr der voyeuristischen Vorführung von Menschen scheint Seidl aber nicht ganz entgehen zu können.

und so urteilte die Jury
http://2003.pardo.ch/2003/sito/index.jsp

 
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