Vom minimalistischen Familienbild bis zur blutrünstigen Comicverfilmung
57. Berlinale

 

Ein großes Filmfestival will unterschiedlichste Geschmäcker zufrieden stellen. Handlungsarme Studien laufen neben klassischen Dramen und actiongeladenen Mainstreamfilmen.

 

Die „Berliner Schule“ darf bei der Berlinale kaum fehlen. Neben Christian Petzolds diese Bewegung weit hinter sich lassendem „Yella“ im Wettbewerb und Angela Schanelecs „Nachmittag“ im „Internationalen Forum des Jungen Films (vgl. www.kultur-online.net) gab es im „Panorama“ Thomas Arslans „Ferien“ zu sehen. In der für die „Berliner Schule“ typischen Art beschränkt sich Arslan aufs distanzierte Beobachten, ohne den Zuschauer zu involvieren und zu manipulieren. Der ganze Film spielt in und um ein Landhaus in der Uckermarck, beginnt mit der Anreise der Familienmitglieder und endet mit deren Abreise. Sommerliche Farben und Licht vermitteln Urlaubsstimmung, doch in Familien brechen bekanntlich gerade in solchen Phasen engen Kontaktes Konflikte auf.

In langen starren Einstellungen fügen sich einzelne Szenen wie bei einem Puzzle langsam zu einem Bild. Gemeinsam sind alle Familienmitglieder nur bei einer Trauerfeier und dem Abschiedsessen im Bild, ansonsten gibt es nur Zweier- oder Dreiergruppen: Der jüngste Sohn mit erster Freundin, die Tochter mit ihrem Mann, ihrer Schwester oder Mutter, der Mann mit den Kindern. Auf eine dramatische Geschichte verzichtet Arslan. Sein Film überzeugt durch die präzise Alltagsbeobachtung, die von hervorragenden Schauspielern getragen wird.

 

Ein noch weiter getriebener Minimalismus findet sich vielfach bei lateinamerikanischen Filmemachern. Die Argentinierin Inés de Oliveira Cézar verlegt in „Extranjera“ die Euripides-Tragödie „Iphigenie in Aulis“ in eine karge Hochebene: Wassermangel führt dazu, dass ein Vater seine Tochter opfert. Offen für viele Interpretationen bleibt dieser fast wort- und handlungslose Film, in dem die langsamen Schwenks über die ausgedörrte Landschaft die Trockenheit fast physisch erfahrbar machen.

Zugänglicher ist da schon der ebenfalls aus Argentinien stammendeEl otro“. Ariel Rotter erzählt von einem Architekten, der versucht aus seinem Leben auszubrechen, die Identität eines Toten annimmt und schließlich doch in seinen Alltag zurückkehrt. Die genau kadrierten, in dunkle Farben getauchten Bilder schaffen viel Atmosphäre und Julio Chavez spielt wunderbar zurückhaltend. Doch statt zwingend und dicht zu erzählen, zelebriert Rotter förmlich seine Inszenierungskunst, schielt mit jedem Bild nach dem Applaus des Publikums und setzt das Spiel mit Spiegeln und Spiegelungen auch penetrant als Symbol für die Identitätssuche ein.

(dieser Film gewann den
Silberner Bär - Großer Preis der Jury 2007)

 

Ungleich frischer und näher beim Leben sind die Chinesen. Mit der Handkamera folgt die 32-jährige Li Yu in „Lost in Beijing“ ihren Protagonisten, saugt sich förmlich an ihren Körpern fest und zeigt auch Sexszenen mit einer für einen chinesischen Film ungewohnten Deutlichkeit: Eine als Masseuse arbeitende Frau vom Land wird von ihrem Chef vergewaltigt. Ihr als Fensterputzer arbeitende Mann wird zufällig Zeuge der Szene und versucht zunächst den Mann zu erpressen. Als bei der Frau aber eine Schwangerschaft festgestellt wird, schließen die Männer einen Vertrag.

Vor dem Hintergrund der boomenden Metropole Bejing zeigt Li Yu schonungslos den Alltag, die Folgen des Turbokapitalismus und die Unterdrückung der Frau.

Aufs Land führt dagegen der Dokumentarfilm „Mona Lisa“, in dem die Titel gebende Musiktruppe im Kontrast zum Alltag steht. Li Ying dokumentiert, wie eine junge Frau bei den Behörden zu erreichen versucht, dass ihrer im Gefängnis sitzenden Mutter erlaubt wird die sterbende Großmutter nochmals zu besuchen.

Was Inszenierung und Selbstinszenierung der Personen und was Realität ist, lässt sich nicht entscheiden, doch nicht wegzudiskutieren ist die soziale Wirklichkeit, die in „Mona Lisa“ einfließt: Desolat sind die Wohnbedingungen, die sanitären und sozialen Einrichtungen, nicht finanzierbar sind ärztliche Behandlungen für das einfache Volk und im Gemeindeamt hängen nicht nur Bilder von Mao, Marx und Lenin, sondern auch noch von Stalin an der Wand. – Wie dieser Film die chinesische Zensur passieren konnte, bleibt ein Rätsel.

 

Scharfen Kontrast zu dieser Menschlichkeit bietet Zack Snyders blutrünstige und kriegsverherrlichende Comic-Adaption „300“. Wie bei „Sin City“ stammt die Vorlage von Frank Miller und wie bei dieser Verfilmung wurden auch in „300“ Schauspieler in computeranimierte Settings hinein kopiert. Doch von der trashigen Poesie des ersteren ist im neuen Film nichts mehr zu spüren. Alle Klischees über die Spartaner, die unter König Leonidas zum Kampf gegen die Perser aufbrechen, werden repetiert. In 15 Minuten wird die auf Kriegstüchtigkeit abzielende Erziehung durchlaufen und sofort geht’s in den Krieg gegen den hünenhaften, von Kopf bis Fuß gepiercten Perserkönig Xerxes. Gegen einen Riesen, ein Nashorn und Elefanten müssen die Spartiaten kämpfen und können schließlich nur durch Verrat besiegt werden.

Nur das Blut spritzt kübelweise rot in den im Comic- und Stummfilmstil ganz in Braun- und bei Nachtszenen in Blaugrau getauchten Bildern, die durch harte Rockmusik Dynamik gewinnen sollen. Wenn dieser überdimensionierte Videoclip den Kampf des freien Griechenland gegen das tyrannische Persien propagiert und der Tod fürs Vaterland verherrlicht wird, können darin zwar Bezüge zu George W. Bushs Kampf gegen die „Achse des Bösen“ gesehen werden, doch bleiben diese angesichts der Plattheit der Argumentation völlig oberflächlich. – Ein faschistoides, Gewalt ästhetisierendes Machwerk ist „300“ aber auf jeden Fall.

 

Aber die Amerikaner können auch ganz anders. Paul Schrader legt mit „The Walker“ so etwas wie ein Sequel zu seinem Kultfilm „American Gigolo“ vor. Vom sonnigen L.A. hat Schrader die Handlung ins dunkle Washington verlegt und den Part von Richard Gere spielt Woody Harrelson. Immer wieder wird Carter Page III. daran erinnert, was für ein großer Politiker und Mann sein Vater war, er aber ist nur „Walker“ – „Ausführer“ von Politikergattinnen. Dieser Job ist aber für den von allen nur „Car“ genannten alternden Mann auch ein Deckmäntelchen, mit dem er seine Homosexualität tarnt. Immer wenn „Car“ in diese seine Welt absteigt, kippt die Kamera aus der Horizontalen. Als er aber in einen Mord verwickelt wird, fliegt der Schein auf und die Washingtoner Politiker-Society grenzt ihn aus.

Schrader inszeniert elegant und setzt lustvoll eine erlesene Starriege (Lily Tomlin, Lauren Bacall, Kristin Scott Thomas, Willem Dafoe) in Szene. Er lässt die Kamera über Interieurs gleiten, führt „Cars“ Kleiderschrank vor und blickt gleichzeitig hinter die Scheinwelt, deckt Korruption und fiese Spielchen der Politiker auf. Wie Carter blickt auch der 65-jährige Regisseur aus der distanzierten Perspektive des Außenseiters recht gelassen und kühl auf diese Gesellschaft. – Kein leidenschaftlicher Film, sondern ein ironisches Gesellschaftsdrama, geprägt vom Bewusstsein, dass einerseits vieles schief läuft, dass man die Zustände andererseits aber nicht ändern kann.

 

Eine gesellschaftliche Wende schildert auch der Franzose André Téchiné. Über drei Kapitel und ein Jahr (1984/85) spannt sich der Handlungsbogen von „Les témoins“ und zeichnet damit auch die Veränderungen, die das Auftreten von Aids mit sich brachte, nach. Am Beginn steht ein Sommer der Leidenschaft und Liebe, des leuchtend blauen Meers, der knallroten Wohnung und des gelben Kornfelds. Ein schneller Schnitt und eine agile Handkamera sorgen für hohes Tempo: Über den Arzt Adrien lernt der junge homosexuelle Manu die Schriftstellerin Sarah und ihren Mann Mehdi kennen. Das Beziehungsgefüge kommt in Bewegung als sich Mehdi in Manu verliebt. Doch dann erkrankt Manu an Aids. Die Kälte des Winters spürt man in den Blautönen und im weißen Licht förmlich. Die Krankheit verändert die Menschen, dennoch verfällt Téchiné nicht in Resignation, sondern lässt seinen Film wieder im warmen Sommer enden: Das Leben muss trotz des Todes geliebter Menschen weiter gehen.



und das waren die Gewinner (Seite der Berlinale)


Walter Gasperi - mehr von ihm findet sich auf www.kultur-online.net

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