von
Urs Vokinger
Unter
neuer Besetzung und mit italienisch-weiblicher Leitung, der Irene Bignardi
als Direktorin, wurde das 54. Filmfestival am 2. August offiziell eröffnet.
Irene Bignardi ist eine bekannte Filmkritikerin, die sich ihren Namen bei
der italienischen Zeitung ‚La Republica’ gemacht hat. Die neue Organisation
hat sich auch etwas Neues einfallen lassen. So wurden alle Filme, die am
Wettbewerb des ‚Goldenen Leoparden’ teilnahmen, grundsätzlich nicht
mehr auf der Piazza Grande in Locarno gezeigt. Um Publikum anzuziehen setzte
die Leitung auf Kommerz- und andere Filme, welche die lau-warmen Nächte
auf der Piazza Grande mit sanfter Filmberieselung verschönern sollten.
Der Auftakt des ersten Abend machte der Film ‚Final Fantasy’, ein amerikanischer
Film, der voll künstlich durch Computer generiert wurde und vom Inhalt
und der Figuren her, dem Film "Tom Raider" gleich, auf einem Computerspiel
basiert. Sicherlich, ist dieses Werk von der Technik her gesehen beachtlich,
bedenkt man, dass z.B. die Haare der digitalisierten Hauptdarstellerin
aus 60'000 Einzelhaare besteht. Hingegen, laut verschiedenen Filmkritiken
(St. Galler Tagblatt, Zoom) hinkt die Geschichte hinten her. Es ist erstaunlich
wie sich heutzutage die Zuschauer mit visuellen Effekten und seichter ‚Story’
leicht abspeisen lassen, was früher eigentlich nur bei Pornofilmen
bekannt war und vom streng-sittlich denkenden Durchschnittsbürger
als pervertiert verpönt wurde.
Den
einzigen Film, den ich auf der Piazza Grande zu sehen bekam, war der deutsche
Film ‚Mostly Martha’ (siehe weiter unten), der wohl die Breite und Länge
der Leinwand ganz ausfüllen konnte, aber keine Tiefe des behandelten
Themas aufweisen konnte.
Ein
Filmfestival soll den Zuschauern die ‚anderen’, d.h. nicht-kommerziellen
Filme, zeigen können. Ein Filmfestival soll auch den Zuschauer aufrütteln
und seinen Filmkonsum überdenken lassen. Kommerzfilme in Openair-Kino
kann er auch in seiner heimatlichen Umgebung sehen; dazu muss er nicht
nach Locarno fahren.
Die
Verbannung der Wettbewerbsfilme in die eigens für das Filmfestival
eingerichteten, von der Umwelt isolierten, sterilen und klimatisierten
Kinoräume Locarnos’ (FEVI and Moretina, beide ausserhalb von Locarno)
führen zu einer leider scheinbaren Elitär-ismus und dadurch
zu einer weiteren Marginalisierung der nicht kommerziellen Filme, was eine
noch höhere Ablehnung solcher Filme im grossen Publikum zu Folge hat
(was der Bauer nicht kennt isst er nicht (oder hier besser, sieht er sich
nicht an)).
Das
geschlechtliche Ungleichgewicht in der diesjährigen Jury der Filme
ist verzeihbar (sieben Frauen und zwei Männer). Laut Zeitungsberichte
gab es in der Jury bei der Wahl der Filme für die Preisverleihungen
eine grosse Auseinadersetzungen, und bei der Bekanntgabe der Preise am
Abend wurde die Jury über ihre Entscheide vom Publikum ausgepfiffen.
Hier die Liste der ‚glücklichen’ Gewinner:
GOLDENER
LEOPARD
SPEZIALPREIS
DER JURY
SILBERNER
LEOPARD (Junger Film)
SILBERNER
LEOPARD (Neuer Film)
produziert
von Wolfram Tichy
SPEZIALPREIS
BRONZENER LEOPARD
SPEZIALPREIS
BRONZENER LEOPARD
ANDONI
GRACIA
im
Film ALLA RIVOLUZIONE SULLA DUE CAVALLI
von Maurizio Sciarra (Italien)
Trotz
der harten Kritik muss ich auch zugestehen, dass organisatorisch auch dieses
Jahr wieder ganze Arbeit geleistet wurde. Über 250 verschiedene Filme
und Videos aus über 40 Länder wurden gezeigt. Ausser den Wettbewerbs-
und Kommerzfilme wurden Filme zukünftiger Regisseuren gezeigt. Studenten
aus Filmschulen Belgiens führten ihre Erstlingswerke auf. Weiter wurden
in einer speziellen Sektion neue Schweizerfilme dem intentionalen Publikum
vorgeführt.
Kurzfilme aus den Schulen
Die
Filmschulen aus Belgien und der Schweiz waren mit Erstlingswerke ihrer
Studenten in Locarno vertreten. Aus den Schweizerschulen habe ich die Filme
(Bilder von links nach rechts) ‚L’Apprentissage’, ‘Un Oiseau dans le plafond’,
‚Sjeki Vatsch!’ ‚Mais
où donc est passée ma vie?’ gesehen. In
‚L’Apprentissage ‚wurde der erste Arbeitstag eines mongoliden sechzehn
jährigen Mädchen dokumentiert. ‚Un Oiseau dans le plafond’ ist
der originellste Film, den ich in Locarno gesehen habe. Er handelt vom
Kuckucksänger Edmond in einer Schwarzwalduhr. Wie alle seine Vorfahren
kündigt er pflichtbewusst die Zeit seinen Besitzern an. Doch als er
erfahren musste, dass seine sie für seine Arbeit keine Beachtung schenken,
zieht er aus seiner engen Kuckuckswohnung aus, nachdem sie erschossen hat.
Im Film ‚Sjeki Vatsch!’ erfährt der Zuschauer, wie es einem Buchhalter
auf der Reise ins himmlische Paradies ergeht. Der Film ist recht makaber;
bei einer Untersuchung durch eine Grenzwache werden auch in den Eingeweiden
des Buchhalters nach verbotener Einfuhrware gesucht. In ‚Mais ou donc est
passée ma vie?’ treffen sich ein junger Mann und eine junge Frau.
Sie hätten sich viel zu sagen, doch ihr Gespräch bleibt nur oberflächlich.
Die
Filme aus Belgien waren zu Teil recht düster. Ich war erstaunt. Denn
letztes Jahr war die iberische Hauptinsel vertreten gewesen. Ihre Filme
zeigten hauptsächlich die Lebensfreude, während die Filme aus
Belgien die Themen Tod, Geburt als Anfang aller Leiden und Leben als Leidensweg
behandelten. Einzig der Film Joyeux Noël Rachid, wo ein islamischer
Junge, trotz Verbot seiner Eltern, mit seinem Freund Weihnachten feiern
geht, zeigte Wärme und Lebensfreude.
Und
nun zu den Zusammenfassungen der gesehenen Filme:
Durchschnittliche
Bewertung: *** (gerundet).
A
Janela;
Edgar Pera; Portugal
Sechs
Frauen erzählen über Antonio, dem Fadosänger und Ramschverkäufer
Lissabons. Jede der sechs Frauen beschreibt den Antonio anders. Sie wissen
nur positives über Antonio zu berichten. Die entsprechenden Szenen
die kurz eingeblendet werden stellen allerdings andere Verhältnisse
vor: Antonioals ein Schürzenjäger,
ein Strassendieb, manchmal ist er Jung und schlank und ein anderes mal
dick und alt. Antonio scheint nicht dieselbe Person zu sein von der die
Frauen sprechen.Am Ende des Films
spricht wahrscheinlich der wirkliche Antonio über die sechs Frauen,
in der Art, wie eben Männer über Frauen sprechen.
Der
Film ist ein Mosaik, ein Patchwork, von kurzen, zeitweise eingefärbten
Aufnahmen, Dialogen und Slapsticks, wie man sie aus den Filmen von Dick
und Doof her kennt. Wahrscheinlich möchte Pera die Welt der Beziehung
zwischen Mann und Frau auf originelle Weise zeigen: die Frauen, wenn sie
einmal verliebt sind, sehen nur das positive (den Prinzen), hingegen die
Männer, (miss—) brauchen die Frauen zur Bestätigung ihrer Männlichkeit
(Machismo).
Der
Film ist ausgesprochen originell und für mich einzigartig. Schade,
dass die ins Französisch übersetzten Dialoge so schnell vorbeizogen,
sodass man die Feinheiten verpasste. Die schnell wechselnden Bilder ermüden
einwenig, sodass man nach einer Stunde eigentlich schon genug hat. Eine
kürzere Version wäre sicher noch besser gewesen. ***
Mostly
Martha;
Sandra Nettelbeck; Deutschland
Der
Film ist langweilig, oberflächlich, die junge Schauspielerin, die
Lina inszeniert, spielt ihre Rolle unglaubwürdig. *
Gripsholm;
Xavier Koller, Schweiz
Wie
Mostly Martha würde ich den Film in die Kategorie ‚Abendfüllende
Familien-Unterhaltungs-Filme’ einstufen. Dies sei jetzt nicht böse
gemeint. Was Mostly Martha fehlte, hatte der Film Gripsholm: eine einfühlsame
Geschichte, gut gespielte Rollen, schöne Aufnahme und ‚sauber’ eingepackter
schnulzig weibliche Homo-Erotik. Nicht einmal eine Klosterfrau würde
da erröten (an Norbert, unseren Obmann)! Ein Film, der der
FKC in der Weihnachtswoche zeigen könnte. Ein Film für frisch
Verliebte! ***
Metropolis;
Rintara; Japan
Durch
die gewaltigen vom Computer generierten 3-D-Dekors im Hintergrund, bei
denen die (wahrscheinlich) handgezeichneten Figuren erblassten, wurde ich
vom Lesen der Untertitel so abgelenkt, dass ich den Inhalt der Geschichte
nur dem Sinn nach verstand.
Der
Detektiv Shunsku Bu sucht in der Stadt Metropolis einen kriminellen Wissenschaftler.
Der Wissenschaftler hat eine Aufgabe vom Despoten der Stadt, Duke Red,
erhalten. Er soll einen Roboter bauen, der ähnlich der Tima ist. Tima
ist die verstorbene Tochter und einziges Kind vom alten Duke Red. Bei einem
Anschlag brennt das Labor des Wissenschaftlers ab. Der halbfertige Roboter
Tima entkommt, aber der Wissenschaftler verliert sein leben in den Flammen.
Nach einer langen Suche findet Duke Red Tima. Als Tima von Duke Red auf
den vorgesehenen Thron gehoben wird, verbindet sie sich mit allen Robotern
von Metropolis und veranlasst die Vernichtung der Menschen. Eine Explosion,
ausgelöst vom Bürgermeister Metropolis, wirft die Stadt in Schutt
und Asche und zur Vernichtung ihrer Roboter.
Dies
war mein erster Mangafilm, den ich gesehen habe, und ich war sehr davon
beeindruckt. Der Animationsfilm lässt sich von der Qualität her
überhaupt nicht mit den japanischen Animationsfilmen, die über
unsere Fernseher flimmern, vergleichen. Die im Film aufgetischte Story
ist auch nicht trivial; es gibt einige unerwartete Wendungen. ***
Siniestero;
Ernesto McCausland, Chile
Siniestero
ist ein fiktiver Dokumentarfilm über einen Busunfall in Ovejas, Chile,
im Jahre 1954. Bei diesem Unfall kamen 45 Passagiere um, einzig ein Blinder,
der während des Unfalls für einige Momente das Augenlicht zurückerhalten
hatte, überlebte. Bei den Recherchen vierzig Jahre später stösst
der Regisseur des Dokumentarfilms auf Filmmaterial, das die ganze Reise
bis zum tragischen Unfall dokumentiert. Ein amerikanischer Filmproduzent
und Fahrgast des verhängnisvollen Busses hatte diese Filme gedreht.
Aus diesen Filmdokumenten geht hervor, dass der Unfall durch politisch-religiösen
Intrigen zwischen den Fahrgästen verursacht wurde.
Der
Film ist eine Mischung 35mm, 16mm und 8mm Aufnahmen sowie Videos. Die (fiktiven)
gefunden Filmaufnahmen sind als schwarz-weiss Film in den Dokumentarfilm
eingeflochten, sodass die Entfaltung der Recherche und der Hergang des
tragischen Unfalles parallel gezeigt werden. Leider war der Film nicht
untertitelt, und es fiel mir schwer, trotz Spanischkenntnisse, dem Inhalt
genau zu folgen. Ich möchte daher nur die Aufmachung des Films bewerten.
Die Ineinanderflechtung von Gegenwart und Vergangenheit fand ich eine gute
Idee. Trotzdem hatte ich manchmal das Gefühl, dass dem Film etwas
Schwung fehlte, und dass es wahrscheinlich auch für einen Südamerikaner
schwer fallen wird, bis Filmende auszuharren. **