54. Filmfestival Locarno 2001

von Urs Vokinger

Unter neuer Besetzung und mit italienisch-weiblicher Leitung, der Irene Bignardi als Direktorin, wurde das 54. Filmfestival am 2. August offiziell eröffnet. Irene Bignardi ist eine bekannte Filmkritikerin, die sich ihren Namen bei der italienischen Zeitung ‚La Republica’ gemacht hat. Die neue Organisation hat sich auch etwas Neues einfallen lassen. So wurden alle Filme, die am Wettbewerb des ‚Goldenen Leoparden’ teilnahmen, grundsätzlich nicht mehr auf der Piazza Grande in Locarno gezeigt. Um Publikum anzuziehen setzte die Leitung auf Kommerz- und andere Filme, welche die lau-warmen Nächte auf der Piazza Grande mit sanfter Filmberieselung verschönern sollten. Der Auftakt des ersten Abend machte der Film ‚Final Fantasy’, ein amerikanischer Film, der voll künstlich durch Computer generiert wurde und vom Inhalt und der Figuren her, dem Film "Tom Raider" gleich, auf einem Computerspiel basiert. Sicherlich, ist dieses Werk von der Technik her gesehen beachtlich, bedenkt man, dass z.B. die Haare der digitalisierten Hauptdarstellerin aus 60'000 Einzelhaare besteht. Hingegen, laut verschiedenen Filmkritiken (St. Galler Tagblatt, Zoom) hinkt die Geschichte hinten her. Es ist erstaunlich wie sich heutzutage die Zuschauer mit visuellen Effekten und seichter ‚Story’ leicht abspeisen lassen, was früher eigentlich nur bei Pornofilmen bekannt war und vom streng-sittlich denkenden Durchschnittsbürger als pervertiert verpönt wurde. 

Den einzigen Film, den ich auf der Piazza Grande zu sehen bekam, war der deutsche Film ‚Mostly Martha’ (siehe weiter unten), der wohl die Breite und Länge der Leinwand ganz ausfüllen konnte, aber keine Tiefe des behandelten Themas aufweisen konnte. 

Ein Filmfestival soll den Zuschauern die ‚anderen’, d.h. nicht-kommerziellen Filme, zeigen können. Ein Filmfestival soll auch den Zuschauer aufrütteln und seinen Filmkonsum überdenken lassen. Kommerzfilme in Openair-Kino kann er auch in seiner heimatlichen Umgebung sehen; dazu muss er nicht nach Locarno fahren. 

Die Verbannung der Wettbewerbsfilme in die eigens für das Filmfestival eingerichteten, von der Umwelt isolierten, sterilen und klimatisierten Kinoräume Locarnos’ (FEVI and Moretina, beide ausserhalb von Locarno) führen zu einer leider scheinbaren Elitär-ismus und dadurch zu einer weiteren Marginalisierung der nicht kommerziellen Filme, was eine noch höhere Ablehnung solcher Filme im grossen Publikum zu Folge hat (was der Bauer nicht kennt isst er nicht (oder hier besser, sieht er sich nicht an)). 

Das geschlechtliche Ungleichgewicht in der diesjährigen Jury der Filme ist verzeihbar (sieben Frauen und zwei Männer). Laut Zeitungsberichte gab es in der Jury bei der Wahl der Filme für die Preisverleihungen eine grosse Auseinadersetzungen, und bei der Bekanntgabe der Preise am Abend wurde die Jury über ihre Entscheide vom Publikum ausgepfiffen. Hier die Liste der ‚glücklichen’ Gewinner:

GOLDENER LEOPARD

ALLA RIVOLUZIONE SULLA DUE CAVALLI

von Maurizio Sciarra (Italien), produziert von Rosanne Seregni und Monica Venturini

SPEZIALPREIS DER JURY 

DELBARAN

von Abolfazl Jalili (Iran/Japan),

SILBERNER LEOPARD (Junger Film)

L’AFRANCE

von Alain Gomis (Frankreich), produziert von Eduard Mauriat

SILBERNER LEOPARD (Neuer Film)

LOVE THE HARD WAY
von Peter Sehr (Deutschland/USA)

produziert von Wolfram Tichy

SPEZIALPREIS BRONZENER LEOPARD

Kim Ho Hung
im Film NABI von Moon Seung-sook (Korea)

SPEZIALPREIS BRONZENER LEOPARD

ANDONI GRACIA

im Film ALLA RIVOLUZIONE SULLA DUE CAVALLI von Maurizio Sciarra (Italien)

Trotz der harten Kritik muss ich auch zugestehen, dass organisatorisch auch dieses Jahr wieder ganze Arbeit geleistet wurde. Über 250 verschiedene Filme und Videos aus über 40 Länder wurden gezeigt. Ausser den Wettbewerbs- und Kommerzfilme wurden Filme zukünftiger Regisseuren gezeigt. Studenten aus Filmschulen Belgiens führten ihre Erstlingswerke auf. Weiter wurden in einer speziellen Sektion neue Schweizerfilme dem intentionalen Publikum vorgeführt.


   

Kurzfilme aus den Schulen

Die Filmschulen aus Belgien und der Schweiz waren mit Erstlingswerke ihrer Studenten in Locarno vertreten. Aus den Schweizerschulen habe ich die Filme (Bilder von links nach rechts) ‚L’Apprentissage’, ‘Un Oiseau dans le plafond’, ‚Sjeki Vatsch!’ ‚Mais où donc est passée ma vie?’ gesehen. In ‚L’Apprentissage ‚wurde der erste Arbeitstag eines mongoliden sechzehn jährigen Mädchen dokumentiert. ‚Un Oiseau dans le plafond’ ist der originellste Film, den ich in Locarno gesehen habe. Er handelt vom Kuckucksänger Edmond in einer Schwarzwalduhr. Wie alle seine Vorfahren kündigt er pflichtbewusst die Zeit seinen Besitzern an. Doch als er erfahren musste, dass seine sie für seine Arbeit keine Beachtung schenken, zieht er aus seiner engen Kuckuckswohnung aus, nachdem sie erschossen hat. Im Film ‚Sjeki Vatsch!’ erfährt der Zuschauer, wie es einem Buchhalter auf der Reise ins himmlische Paradies ergeht. Der Film ist recht makaber; bei einer Untersuchung durch eine Grenzwache werden auch in den Eingeweiden des Buchhalters nach verbotener Einfuhrware gesucht. In ‚Mais ou donc est passée ma vie?’ treffen sich ein junger Mann und eine junge Frau. Sie hätten sich viel zu sagen, doch ihr Gespräch bleibt nur oberflächlich.

Die Filme aus Belgien waren zu Teil recht düster. Ich war erstaunt. Denn letztes Jahr war die iberische Hauptinsel vertreten gewesen. Ihre Filme zeigten hauptsächlich die Lebensfreude, während die Filme aus Belgien die Themen Tod, Geburt als Anfang aller Leiden und Leben als Leidensweg behandelten. Einzig der Film Joyeux Noël Rachid, wo ein islamischer Junge, trotz Verbot seiner Eltern, mit seinem Freund Weihnachten feiern geht, zeigte Wärme und Lebensfreude.

Und nun zu den Zusammenfassungen der gesehenen Filme:

Avec tout mon amour; Amalia Escriva; Frankreich

Der Film erzählt die Geschichte von der träumerischen, in sich verschlossen, sensiblen und etwas naivenEugenia, die angebliche Tochter einer Einwanderfamilie zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Algerien. Eugenia ist in Wirklichkeit die Tochter ihrer älteren Schwester Dolores; eine Tatsache, die sie nie erfahren wird. Aus dem Dialogen des Filmes lässt sich erahnen, dass Dolores und Eugenia den gleichen Vater haben. Adele, die dritte weibliche Hauptfigur, ist eine lebensfrohe, intelligente, aktive Frau und eine Sympathisantin des aufkommenden Marxismus. Ihr Freund und Lebenspartner Jean, ein Advokat, verliebt sich in Eugenia und möchte sie heiraten. Der wahrscheinliche Vater Eugenias willigt ein, da er überzeugt ist, dass dies eine gute Partie führ seine Tochter ist. Adele versucht diese Heirat zu vereiteln, indem sie Jean über die elterlichen Verhältnisse Eugenias aufklärt. Jean, lässt sich nicht von der Heirat abbringen, doch beruhigt er Adele, dass die Heirat keinen Einfluss auf ihr Verhältnis haben werde. Eugenia weiss Bescheid über das Verhältnis zwischen ihren Mann und Adele. Doch sie zerbricht daran, als ihr Mann für einen Prozess in Frankreich Adele als Begleitung bevorzugt. Als Jean aus Frankreich zurück kam, findet er Eugenia mit aufgeschnittener Halsader auf dem Sofa liegen. Die schriftliche Nachricht, die sie Jean hinterlässt ist: ‚Avec tout mon amour!’(Mit all meiner Liebe).

Die Geschichte Eugenias wird in ungekehrter zeitlicher Richtung erzählt. Der Film beginnt mit Jean, als er Eugenia Tod auf dem Sofa findet und endet in der Jugendzeit Eugenias. Diese ‚Abwicklung’ der Geschichte (in Form von der Gegenwart in die Vergangenheit) ist etwas konfus dargestellt. Der Zuschauer hat Mühe auf der rückwärtsgehenden Zeitachse zu folgen. Des weiteren hängt die Abwicklung der Geschichte manchmal etwas durch. Die Verfilmung ist daher eher schlecht. Die Inszenierung von Eugenia ist ausgesprochen gut und die Szenerien erfreuen das Auge. Daher Verfilmung, d.h. Umsetzung der Geschichte: *, Idee, Inhalt, Inszenierung, Aufmachung:****

Durchschnittliche Bewertung: *** (gerundet).

A Janela; Edgar Pera; Portugal

Sechs Frauen erzählen über Antonio, dem Fadosänger und Ramschverkäufer Lissabons. Jede der sechs Frauen beschreibt den Antonio anders. Sie wissen nur positives über Antonio zu berichten. Die entsprechenden Szenen die kurz eingeblendet werden stellen allerdings andere Verhältnisse vor: Antonioals ein Schürzenjäger, ein Strassendieb, manchmal ist er Jung und schlank und ein anderes mal dick und alt. Antonio scheint nicht dieselbe Person zu sein von der die Frauen sprechen.Am Ende des Films spricht wahrscheinlich der wirkliche Antonio über die sechs Frauen, in der Art, wie eben Männer über Frauen sprechen.

Der Film ist ein Mosaik, ein Patchwork, von kurzen, zeitweise eingefärbten Aufnahmen, Dialogen und Slapsticks, wie man sie aus den Filmen von Dick und Doof her kennt. Wahrscheinlich möchte Pera die Welt der Beziehung zwischen Mann und Frau auf originelle Weise zeigen: die Frauen, wenn sie einmal verliebt sind, sehen nur das positive (den Prinzen), hingegen die Männer, (miss—) brauchen die Frauen zur Bestätigung ihrer Männlichkeit (Machismo).

Der Film ist ausgesprochen originell und für mich einzigartig. Schade, dass die ins Französisch übersetzten Dialoge so schnell vorbeizogen, sodass man die Feinheiten verpasste. Die schnell wechselnden Bilder ermüden einwenig, sodass man nach einer Stunde eigentlich schon genug hat. Eine kürzere Version wäre sicher noch besser gewesen. ***

Mostly Martha; Sandra Nettelbeck; Deutschland

Das haben wir schon gesehen: Ein Film, der sich um das gute Essen dreht, eingewickelt in eine sentimentale Geschichte. Man erinnere sich an den koreanischen Film, der im FKC gezeigt wurde (Eat, Man, Drink, Women). Dort wollte der Vater, der jeweils das Essen zubereitete, seine Töchter verheiraten, oder ähnlich in einem anderen mexikanischen Film aus Mitte der neunziger Jahren. Nur geht es bei Mostly Martha quasi mit mehr Emanzipation und stereotypischer zu. Die störrische Martha hat sich als Chef-Köchin in Nobelrestaurant Lido hochgearbeitet. Da will der Zufall, dass ihre allein erziehende Schwester bei einem Autounfall stirbt. Martha muss sich um das Kind Lina ihrer Schwester sorgen, und dabei ist ihre Karriere als Chef-Köchin in Gefahr. Die Restaurantbesitzerin hat während der längeren Abwesenheit Marthas den italienischen Koch Mario eingestellt (schwarze Haare, braune Augen, kann Solo Mio auswendig singen), der das Handwerk in der Küche ebenso gut versteht wie Martha. Der Ausgang der Geschichte ist klar: Die störrische Martha erliegt dem italienischen Charme von Mario, und Lina findet bei den frisch verliebten die vermisste Geborgenheit.

Der Film ist langweilig, oberflächlich, die junge Schauspielerin, die Lina inszeniert, spielt ihre Rolle unglaubwürdig. *

Gripsholm; Xavier Koller, Schweiz

Kurt, der in der dreissiger Jahre freche Lieder für ein Kabarett schreibt, hat sich für das herrschende NS-Regime in Berlin unbeliebt gemacht. In einem Text schrieb er, dass ‚alle Soldaten Mörder sind’. Den Sommer verbringt er mit der schönen Prinzessin (der Kosename seiner geliebten Lydia; dem aussehen nach hat sie den Namen wirklich verdient) im Schloss Gripsholm in Schweden. Lydias Freundin, Billie, eine Sängerin vom Kabarett, undKurts Freund, Karlchen, ein Pilot, gesellen sich für einige Wochen dazu. Während des Aufenthaltes erfährt Kurt aus den Zeitungsberichten, dass er von der Reichsarmee gerichtlich verfolgt wird. Kurt bleibt in Schweden, seine Prinzessin kehrt nach Deutschland zurück.

Wie Mostly Martha würde ich den Film in die Kategorie ‚Abendfüllende Familien-Unterhaltungs-Filme’ einstufen. Dies sei jetzt nicht böse gemeint. Was Mostly Martha fehlte, hatte der Film Gripsholm: eine einfühlsame Geschichte, gut gespielte Rollen, schöne Aufnahme und ‚sauber’ eingepackter schnulzig weibliche Homo-Erotik. Nicht einmal eine Klosterfrau würde da erröten (an Norbert, unseren Obmann)! Ein Film, der der FKC in der Weihnachtswoche zeigen könnte. Ein Film für frisch Verliebte! ***

Metropolis; Rintara; Japan

Metropolis ist ein verfilmter Manga. Manga heissen die Comics in Japan.

Durch die gewaltigen vom Computer generierten 3-D-Dekors im Hintergrund, bei denen die (wahrscheinlich) handgezeichneten Figuren erblassten, wurde ich vom Lesen der Untertitel so abgelenkt, dass ich den Inhalt der Geschichte nur dem Sinn nach verstand.

Der Detektiv Shunsku Bu sucht in der Stadt Metropolis einen kriminellen Wissenschaftler. Der Wissenschaftler hat eine Aufgabe vom Despoten der Stadt, Duke Red, erhalten. Er soll einen Roboter bauen, der ähnlich der Tima ist. Tima ist die verstorbene Tochter und einziges Kind vom alten Duke Red. Bei einem Anschlag brennt das Labor des Wissenschaftlers ab. Der halbfertige Roboter Tima entkommt, aber der Wissenschaftler verliert sein leben in den Flammen. Nach einer langen Suche findet Duke Red Tima. Als Tima von Duke Red auf den vorgesehenen Thron gehoben wird, verbindet sie sich mit allen Robotern von Metropolis und veranlasst die Vernichtung der Menschen. Eine Explosion, ausgelöst vom Bürgermeister Metropolis, wirft die Stadt in Schutt und Asche und zur Vernichtung ihrer Roboter.

Dies war mein erster Mangafilm, den ich gesehen habe, und ich war sehr davon beeindruckt. Der Animationsfilm lässt sich von der Qualität her überhaupt nicht mit den japanischen Animationsfilmen, die über unsere Fernseher flimmern, vergleichen. Die im Film aufgetischte Story ist auch nicht trivial; es gibt einige unerwartete Wendungen. ***

Siniestero; Ernesto McCausland, Chile

Siniestero ist ein fiktiver Dokumentarfilm über einen Busunfall in Ovejas, Chile, im Jahre 1954. Bei diesem Unfall kamen 45 Passagiere um, einzig ein Blinder, der während des Unfalls für einige Momente das Augenlicht zurückerhalten hatte, überlebte. Bei den Recherchen vierzig Jahre später stösst der Regisseur des Dokumentarfilms auf Filmmaterial, das die ganze Reise bis zum tragischen Unfall dokumentiert. Ein amerikanischer Filmproduzent und Fahrgast des verhängnisvollen Busses hatte diese Filme gedreht. Aus diesen Filmdokumenten geht hervor, dass der Unfall durch politisch-religiösen Intrigen zwischen den Fahrgästen verursacht wurde.

Der Film ist eine Mischung 35mm, 16mm und 8mm Aufnahmen sowie Videos. Die (fiktiven) gefunden Filmaufnahmen sind als schwarz-weiss Film in den Dokumentarfilm eingeflochten, sodass die Entfaltung der Recherche und der Hergang des tragischen Unfalles parallel gezeigt werden. Leider war der Film nicht untertitelt, und es fiel mir schwer, trotz Spanischkenntnisse, dem Inhalt genau zu folgen. Ich möchte daher nur die Aufmachung des Films bewerten. Die Ineinanderflechtung von Gegenwart und Vergangenheit fand ich eine gute Idee. Trotzdem hatte ich manchmal das Gefühl, dass dem Film etwas Schwung fehlte, und dass es wahrscheinlich auch für einen Südamerikaner schwer fallen wird, bis Filmende auszuharren. **



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